Bei ihrer überraschend erfolgreichen Gegenoffensive haben die ukrainischen Truppen über 6’000 Quadratkilometer Land zurückerobert. Die Russen liessen bei ihrer panikartigen Flucht riesige Mengen militärischen Materials zurück, unter anderem Panzer und Munition.
Für die ukrainische Armee sind dies Geschenke des Himmels. Die erbeuteten russischen Panzer ersetzen ukrainische Ausfälle und werden jetzt im Kampf gegen die Russen eingesetzt – vorher wird das «Z» übermalt. Michael Kofmann, Direktor für Russlandstudien beim amerikanischen C.N.A. Forschungsinstitut in Arlington bestätigte, dass die Russen «einen grossen Teil ihrer Ausrüstung zurückgelassen haben».
Nicht nur damit hat Russland zur Zeit zu kämpfen. Zahlreiche russische Soldaten sind offenbar nach Russland geflohen und nach Hause zurückgekehrt, anstatt anderswo in der Ukraine zu kämpfen. Dies bestätigten Kreise im amerikanischen Pentagon. Laut Angaben der Agentur Associated Press haben die Ukrainer zahlreiche russische Soldaten gefangengenommen.
Anzeichen von explosiver Wut
Nach Angaben der New York Times berichten Ukrainer, die aus den von Russland besetzten Gebieten geflohen sind, dass die russischen Besatzungstruppen Anzeichen von Stress, Angst und explosiver Wut zeigen.
Die Zeitung zitiert einen Imker namens Maksym Bratienkov, der sagte: «Ich habe sogar einige junge russische Soldaten sagen hören: 'Ich hoffe nur, dass die Ukrainer diesen Ort bald befreien, damit wir nach Hause gehen können'».
Gewonnen, zerronnen
Im nördlichen Donbass, im Gebiet von Charkiw, haben die Russen ihre früheren Gebietsgewinne fast ganz wieder verloren. Russische Einheiten wurden über die Grenze nach Russland zurückgedrängt.
Russland hat zugegeben, wichtige Städte in der nordöstlichen Region Charkiw verloren zu haben. Die ukrainischen Streitkräfte hatten unter anderem die strategisch wichtigen ostukrainischen Städte Balakljia, Isjum und Kupjansk zurückerobert und befinden sich offenbar auf dem Weg Richtung Lyssytschansk.
Valerii Marchenko, der Bürgermeister von Isjum, sagte, die ukrainische Armee sei in der Stadt jetzt mit Aufräumarbeiten beschäftigt und suche nach russischen Soldaten, die sich möglicherweise versteckt hielten. Er forderte die geflohene Bevölkerung auf, noch zehn Tage zu warten, um dann zurückzukehren.
«Mögliche Wende»?
Einige Militärexperten sprechen schon von einer «möglichen Wende» in diesem Krieg. Andere sind vorsichtiger. Die ukrainische Regierung hält sich mit enthusiastischen Erklärungen zurück. Sie verweist darauf, dass Russland nach wie vor weite Gebiete im Osten und Süden des Landes dominiert. Zudem verfügen die russischen Kräfte noch immer über riesige Mengen Waffen in der Ukraine.
Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums werden die jüngsten Erfolge der ukrainischen Armee «erhebliche Auswirkungen» auf Russlands Gesamtstrategie haben.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow betonte jedoch, dass die Militäroperationen in der Ukraine fortgesetzt werden, «bis alle ursprünglich festgelegten Aufgaben erfüllt sind».
Vorsichtiger Blinken
Auch der amerikanische Aussenminister Antony Blinken ist vorsichtig und spricht nur von «bedeutenden Fortschritten» der ukrainischen Armee. Es sei noch zu früh, um das Ergebnis vorauszusagen.
«Die Russen unterhalten in der Ukraine sehr bedeutende Streitkräfte sowie Ausrüstung, Waffen und Munition. Sie setzen diese wahllos nicht nur gegen die ukrainischen Streitkräfte, sondern auch gegen Zivilisten und zivile Infrastrukturen ein, wie wir gesehen haben», sagte Blinken.
«Beschämend»
Moskau bezeichnet seinen Truppenrückzug aus der Region in den letzten Tagen als «Umgruppierung». Man werde sich jetzt auf die Regionen Luhansk und Donezk konzentrieren. Diese Behauptung wurde laut der BBC sogar in Russland belächelt. Viele Nutzer sozialer Medien würden den erklärten Abzug als «beschämend» bezeichnen.
Nicht nur in der Ostukraine, auch im Süden, in der Region Cherson, melden die Ukrainer Fortschritte – allerdings sehr langsame.
Angriffe auf zivile Anlagen
Aus Rache für ihre Verluste auf dem Schlachtfeld haben die Russen begonnen, zivile Infrastrukturen aus der Luft zu bombardieren. So wurde in der Region Charkiw ein Elektrizitätswerk angegriffen, was zu massiven, stundenlangen Stromausfällen führte. Zehntausende Menschen waren und sind noch immer ohne Strom und ohne fliessendes Wasser.
Druck auf Putin
Putin zeigt sich vordergründig unbeeindruckt von den schweren russischen Verlusten. Doch die New York Times schreibt, dass sich die Anzeichen mehren, dass die russische Elite durch den Rückzug der Armee verunsichert ist und nicht weiss, wie es weitergehen soll.
Da und dort regt sich in Russland selbst Kritik. Mehr als 40 lokale Mandatsträger in ganz Russland haben am Montag eine Petition unterzeichnet. Darin heisst es unter anderem: «Wir fordern den Rücktritt von Wladimir Putin vom Amt des Präsidenten der Russischen Föderation!» Wie erwartet wurde die Petition von den staatlich kontrollierten Medien nicht erwähnt. In den sozialen Medien allerdings wurde das Schreiben ausführlich kommentiert.
«Unorganisiert», «unzureichend»
Sogar im russischen Staatsfernsehen wird jetzt ab und zu die russische Invasion als «unorganisiert» und «unzureichend» kritisiert. Einige Diskussionsteilnehmer äussern am Fernsehen offen ihre Wut über die russischen Rückschläge. Ein Parlamentarier forderte eine «dringende Anpassung» der Kriegsanstrengungen. Konstantin F. Zatulin, ein Putin-treuer Parlamentsabgeordneter, bewertete den russischen Rückzug als «sehr ernsten Schaden für die Idee dieser speziellen Militäroperation».
Zatulin betonte jedoch, dass jeglicher Optimismus von Menschen, die auf einen Sturz Putins hoffen, «sehr verfrüht» sei. Der ukrainische Vormarsch, so Zatulin, könnte den Kreml dazu veranlassen, seine Kriegsanstrengungen zu verstärken und mit massiver Kraft die Ukraine in die Knie zwingen. Doch, so der Abgeordnete, er erwarte nicht, dass dies zu einem «Atomkrieg» führen werde.