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Gaza

Und schon wieder ein «trauriges Missgeschick»

26. August 2025
Ignaz Staub
Ignaz Staub
Kamera von Mariam Dagga
Diese Kamera hatte die für die Agentur AP tätig gewesene freie Fotografin Mariam Dagga getragen, als sie am 25. August 2025 durch den Angriff der IDF auf das Nasser-Spital in Khan Younis tödlich getroffen wurde. (Keystone/Famliy Handout via AP)

Erneut hat die israelische Armee in Gaza ein Spital angegriffen und neben Gesundheitspersonal auch Medienschaffende getötet. Premier Netanjahu bedauert den Vorfall, während Fachleute vor einer systematischen Zerstörung des Gesundheitssystems im Küstenstreifen warnen. 

Die israelische Armee (IDF) hat am Montag bestätigt, gleichentags auf dem Gelände des Nasser-Spitals in Khan Yunis ein Ziel attackiert zu haben. «Die Armee bedauert jeglichen Schaden an unbeteiligten Zivilisten», heisst es in einer Mitteilung der IDF, die sich angesichts der Fakten am Boden extrem zynisch liest. Die Armee, heisst es zum x-ten Mal weiter, operiere «um Schaden an unbeteiligten Individuen so weit wie möglich zu verhindern und gleichzeitig die Sicherheit der IDF-Einheiten sicherzustellen».

Die Fakten hinter dem Communiqué? Beim Panzerangriff auf das Spital in Gaza hat die IDF mindestens zwanzig Menschen – unter ihnen fünf Journalistinnen und Journalisten – getötet und rund fünfzig Personen verletzt. Eine erste Granate traf den vierten Stock eines Gebäudes auf dem Spitalareal, worauf das zweite Geschoss, mutmasslich ein sogenannter «double tap», wenige Minuten später diejenigen Ärzte und Pflegepersonen traf, die den Verwundeten im oben Stockwerk zu Hilfe eilen wollten. Menschenrechtsgruppen kritisieren die Taktik des «double tap», des zweimaligen Anvisieren desselben Ziels, weil sie absichtlich Helfer und Zivilisten trifft, die Opfern nach einem ersten Angriff beistehen wollen. 

«Wir hörten nur Schreie»

Das Nasser-Spital ist die einzige Klinik im Süden Gazas, die noch einigermassen funktioniert. Sie beherbergt zurzeit über tausend Patientinnen und Patienten, hat aber lediglich 340 Betten, weshalb Kranke und Verwundete auch in den Gängen auf dem Boden liegen. Die Granaten schlugen in der Nähe der Operationssäle ein, die teils beschädigt wurden. Dabei wurden eine Pflegefachfrau sowie mehrere Angehörige des medizinischen Personals durch die Geschosse selbst oder durch herabfallende Trümmer verwundet. 

Unter den vier getöteten Spitalangehörigen befindet sich der Medizinstudent Mohammed Mahmoud Ismail al-Habibi, der kurz vor dem Abschluss seines Studiums stand. «Al-Habibis Traum war es, den weissen Kittel eines Arztes zu tragen und seinen Leuten zu helfen», sagt Munir al-Barsh, Direktor des Gesundheitsministeriums in Gaza: «Stattdessen wurde er im Spital getötet, wo er Leben zu retten geschworen hatte.» Ayat al-Haj, Koordinatorin des Spitals für Öffentlichkeitsarbeit, beschrieb erstickenden Rauch und Staub: «Wir konnten nichts sehen, alles, was wir hören konnten, waren Schreie.» 

«Krieg gegen die Hamas»

Den israelischen Truppen vor Ort zufolge galt der Angriff einer Kamera, von der sie annahmen, sie gehöre der Hamas und werde dazu benutzt, israelische Kräfte zu beobachten. Die zweite tödliche Panzergranate sei abgefeuert worden, um sicherzustellen, dass die Kamera zerstört worden war – eine Version, der selbst höhere Offizielle der IDF misstrauen, da im fraglichen Gebiet viele Kameras funktionieren. Auf jeden Fall will die Armee den Vorfall «so bald als möglich» untersuchen. 

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, um Krokodilstränen nie verlegen, sprach von einem «traurigen Missgeschick» und betonte, Israel schätze «die Arbeit von Medienschaffenden, medizinischem Personal und allen Zivilisten». Die Armee, so der Premier, werde den Vorfall eingehend untersuchen: «Wir führen Krieg gegen die Terroristen der Hamas. Unser Ziel ist es, die Hamas zu besiegen und die Geiseln heimzubringen.»

«Die Welt schaut zu»

Unter den Opfern im Nasser-Spital ist die 33-jährige Mariam Abu Dagga, die als freie Fotografin für die Nachrichtenagentur AP im Einsatz und laut dem «Independent Arabia» (der arabischen Ausgabe des Londoner «Independent») «ein Beispiel für Einsatz und professionelles Engagement» war: «Sie war mit ihrer Kamera im Zentrum des Geschehens unterwegs und hielt das Leiden der Zivilisten und die Stimmen der Opfer mit seltener Ehrlichkeit und Mut fest.» Wie andere Kolleginnen und Kollegen in Gaza hatte Mariam Abu Dagga für den Fall ihres Todes ein Testament verfasst und ihrem 13-jährigen Sohn einen Brief hinterlassen. Sie wünscht ihm, «mich stolz zu machen, Erfolg zu haben und dein Bestes zu geben».

Mit dem Tod der fünf Medienschaffenden Anfang Woche in Khan Junis steigt die Zahl der in Gaza getöteten Pressevertreterinnen und -Vertreter dem «Committee to Protect Journalists» (CPJ) zufolge auf mindestens 197. Das Gesundheitsministerium in Gaza spricht von 245 getöteten Journalistinnen und Journalisten seit Kriegsbeginn am 7. Oktober 2023 nach dem Massaker der Hamas. «Israels öffentliches Töten von Medienschaffenden in Gaza geht weiter, während die Welt zuschaut und es versäumt, auf die schrecklichsten Attacken zu reagieren, welche die Presse in der jüngeren Geschichte erlitten hat», sagt CPJs Regionaldirektorin Sara Qudah: «Die Täter dürfen nicht mehr ungestraft davonkommen.» 

Erst vor zwei Wochen hat die IDF beim Luftangriff auf ein Medienzelt auf dem Gelände des Al-Shifa-Spitals in Gaza-Stadt Al-Jazeera-Korrespondent Anas al-Sharif und seinen Kollegen Mohammed Qreiqeh sowie drei weitere palästinensische Medienschaffende getötet. Für Al-Jazeera arbeitete auch der am Montag in Khan Yunis getötete Mohammed Salama. Der Kameramann ist der zehnte Mitarbeitende des katarischen Fernsehsenders, der in Gaza umgekommen ist. «Israelische Truppen haben Medienschaffende im Rahmen einer systematischen Kampagne gezielt getötet», hiess es in einer Mitteilung des Senders. Was die IDF wiederholt, aber immer weniger überzeugend dementiert.

Kaum Rechenschaft  

Dass am Ende jemand für die jüngste tödliche Attacke auf das Nasser-Spital zur Rechenschaft gezogen wird, scheint aufgrund bisheriger Erfahrungen wenig wahrscheinlich. Laut einem im August veröffentlichten Report hat die IDF 88 Prozent der Untersuchungen von angeblichen Kriegsverbrechen entweder eingestellt oder ungelöst gelassen. Israel betont, es habe in der Vergangenheit medizinische Einrichtungen und Spitäler nur angegriffen, weil die Hamas sie für militärische Zwecke missbraucht habe. 

Gemäss dem Medienbüro der Regierung in Gaza sind bis Anfang April dieses Jahres 1’402 Angehörige des medizinischen Personals getötet worden. Das Gesundheitsministerium spricht von mindestens 1'400 getöteten und 360 festgenommenen Angehörigen des Gesundheitspersonals – unter ihnen auch Ärzte – seit Kriegsbeginn. Währenddessen sprechen Fachleute von «Healthocide», dem gezielten Angriff auf Gesundheitspersonal und Spitäler, und erwähnen dabei in erster Linie Gaza, aber auch die Ukraine, den Libanon, den Sudan oder Syrien. 

«Eine systematische Zerlegung»

«Sowohl in Gaza wie im Libanon sind nicht nur Gesundheitseinrichtungen gezielt angegriffen, sondern ist auch der Zugang zu Pflege erschwert worden, insbesondere was Zwischenfälle betrifft, bei denen Krankenwagen daran gehindert worden sind, Verwundete zu erreichen, oder sogar absichtlich attackiert worden sind», schreibt die Ärztin Joelle Abi-Rached in einem Artikel für die medizinische Online-Zeitschrift «BMJ Global Health». 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete Anfang Jahr dem Uno-Sicherheitsrat, Spitäler in Gaza würden «zu Schlachtfeldern» und das Gesundheitssystem «systematisch zerlegt sowie an den Rand des Zusammenbruchs getrieben». Dem libanesischen Gesundheitsministerium zufolge hat die israelische Armee zwischen dem 8. Oktober 2023 und dem 27. Januar 2025 insgesamt 217 Angehörige des medizinischen Personals getötet. Zudem seien 177 Krankenwagen beschädigt und 68 Attacken auf Spitäler registriert worden. 

«Eine entsetzliche Häufung»

«In den letzten Jahren haben Ärztinnen und Ärzte die entsetzliche Zunahme von Angriffen auf das Gesundheitssystem, auf Patienten und Personal in Konfliktzonen und die Missachtung der medizinischen Neutralität und des internationalen humanitären Rechts sehen müssen», sagt Dr. Andrew Green, Vorsitzender des Ethikausschusses der British Medical Association. Das gelte weltweit, aber vor allem in Gaza angesichts des Umstands, dass die Bevölkerung dort «sowohl unmittelbar von Hungersnot bedroht ist, während die Gesundheitsversorgung, die sich um die Hungernden kümmert, systematisch ausgelöscht und medizinisches Personal entweder getötet oder willkürlich festgehalten wird».

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