Intuitionen, Analogieschlüsse, vermeintliche Kausalzusammenhänge und die menschliche Abneigung gegen die Preisgabe fester Überzeugungen führen immer wieder zu irrigen Annahmen und Fehlurteilen. Gute Wissenschaft weiss, dass sie davor nicht gefeit ist.
Der Philosoph Karl Popper war der Meinung, der Erkenntnisfortschritt bestehe darin, alten Wissensballast und Irrtümer abzuwerfen. Dadurch kämen wir der Wahrheit näher. Eine Art geistiger Entschlackungsprozess. Das stellt sich nun allerdings als viel mühseliger und vertrackter heraus, als wir uns vielleicht vorstellen. Ich unternehme deshalb einen kleinen Streifzug durch eine Handvoll solcher Vertracktheiten.
Irrtum und Ignoranz
Irrtum und Ignoranz sind nicht dasselbe, aber es gibt Verknüpfungen. Man kann sich aus Ignoranz irren. Die Logik hat dafür seit alters eine eigene Bezeichnung: das «Argumentum ad ignorantiam». Man glaubt an etwas, weil das Gegenteil nicht bewiesen oder widerlegt worden ist.
Beispiel 1: Bisher haben die Wissenschaftler nicht ausschliessen können, dass Poltergeister existieren; also existieren Poltergeister.
Beispiel 2: Die Hirnforscher sind auf ihrer Suche nach einem Zentrum des freien Willens im neuronalen Netz nicht fündig geworden; also gibt es keinen freien Willen.
Beispiel 3: Uns fehlen die Beweise dafür, dass der Irak keine Massenvernichtungswaffen besitzt; also gehen wir davon aus, dass er solche Waffen besitzt.
In allen Fällen handelt es sich um einen logischen Irrtum, also um einen Fehlschluss, wie plausibel er auch anmuten mag. Er erweist sich als richtig gefährlich, etwa wenn er in inquisitorischem Geist betrieben wird. Man kann sich aus Ignoranz irren wollen. Das Argumentum ad ignorantiam wirkt wie ein Mantel, in dessen wärmender Hülle liebgewonnene Überzeugungen gehegt und gepflegt werden können: der Glaube an Poltergeister, dämonische Besessenheit, magische Pyramiden und heilende Steine, Telepathie, Bermudadreiecke, Verschwörungen, Harmlosigkeit von Zigaretten und was weiss ich.
Irrtum und Intuition
Die Intuition, die kreative Eingebung, spielt im Erkenntnisprozess eine wichtige Rolle. Sie macht uns auch anfällig für Irrtümer. Vom Psychologen Daniel Kahnemann gibt es ein schönes Beispiel.
Ein Tennisschläger kostet 10 Franken mehr als ein Tennisball. Zusammen kosten sie 10 Franken 10 Rappen. Wieviel kostet der Ball? Intuitiv neigen wir zur Antwort: 10 Rappen, was nicht stimmt. Die richtige Antwort ist: 5 Rappen. Sie können das mit einem einfachen linearen Gleichungssystem lösen, oder wie auch immer – entscheidend ist hier: Sie irren sich aus Intuition.
Wir kennen das Gefühl, wenn uns «ein Licht aufgeht», diesen Anfall plötzlicher Klarheit eines Gedankens, der Heureka-Effekt. Wir fühlen seine Richtigkeit eher, als dass wir sie schon zu begründen wüssten. Ein solches Gefühl kann zu bahnbrechenden Erkenntnisdurchbrüchen führen, wie sie in der Wissenschaftsgeschichte oft geschehen sind.
Sogar in der Mathematik, diesem Paradefeld der bewiesenen Wahrheit, spielt das Gefühl der Gewissheit eine wichtige Rolle. Im Notizbuch des mathematischen Wunderkindes Srinivasa Ramanujan fanden sich zum Beispiel zahlreiche Lehrsätze, die er nicht bewiesen hatte, von deren Wahrheit er aber überzeugt war. Einige stellten sich im Nachhinein als falsch heraus.
Irrtum und falsche Analogien
Markenzeichen wissenschaftlichen Denkens ist das Kausalitätsprinzip. Doch kausales Denken hat viele Haken. Einer liegt in der Orientierung an vertrauten Modellen, die aber, auf unvertraute Gebiete übertragen, in die Irre führen – quasi ein Analogie-Unfall.
Beispiel: Eine Studie hat gezeigt, dass Konsumenten einer energiespendenden Pille zur Ansicht neigen, ihre Wirkung würde umso eher nachlassen, je intensiver man arbeitet. Die Analogie zu einem physikalischen Vorgang ist unschwer zu erkennen. Je mehr Energie ich von einer Batterie beziehe, desto schneller ist die Batterie leer. Die Wirkungsdauer eines Pharmakons steht aber in keinem nachweisbaren Zusammenhang mit der ausgeführten Arbeit. Dieses unangemessene Kausalmodell kann den Konsumenten unter Umständen sogar dazu verführen, mehr Pharmaka einzunehmen, als ihm zuträglich ist.
Analogien solcher Art bringen einen wichtigen psychologischen Faktor zum Vorschein: Kausales Denken wirkt tendenziell zementierend. Haben wir erst einmal ein Ereignismuster als ein kausales gedeutet (oder missdeutet), halten wir daran fest. Wir neigen dazu, neue Information im Licht vertrauter Kausalmodelle zu evaluieren. Das hat durchaus seinen Nutzen: Wir sind dadurch in vielen Lebensbereichen fähig, schnell und wirkungsvoll zum Beispiel auf Gefahren zu reagieren.
Irrtum und feste Überzeugung
Eine kognitive Krankheit grassiert: gefühltes Wissen. Auffallendes Symptom: Man ist überzeugt, etwas zu wissen, weiss es aber im Grunde nicht. Besonders heimtückisch breitet sich das gefühlte Wissen im Netz aus, in den unzähligen Foren, wo im Brustton der Überzeugung übelster Mist verzettelt wird. Der Neurobiologe Robert A. Burton diagnostizierte schon 2008: Es herrscht eine Epidemie der Gewissheit. «Handelt es sich bloss um Sturheit, Arroganz oder fehlgeleitetes Denken, oder könnten die Wurzeln in der Biologie des Gehirns liegen?», fragt Robert Burton. Und er hat sich zum Ziel gesetzt, die fundamentalste aller kognitiven Fragen zu beantworten: Was bedeutet es, überzeugt zu sein?
Burton schreibt: «Moderne Biologie (…) sagt uns, dass Gewissheit kein bewusster Entscheid, ja, nicht einmal ein Gedankenprozess ist, ungeachtet, wie es sich anfühlt, gewiss zu sein. Gewissheit und ähnliche Zustände des ‘Wissens, dass wir wissen’ entspringen Gehirnmechanismen, die, wie Wut oder Liebe, unabhängig von rationalen Erwägungen funktionieren. Sich überzeugt zu fühlen, ist kein überlegter Schluss oder ein bewusster Entscheid, sondern eine mentale Empfindung, die uns einfach passiert.»
Die Beobachtung erklärt oder macht zumindest ein weitverbreitetes Phänomen plausibel: Viele öffentlich auftretende Figuren, die Überzeugungen bekunden, denken nicht, sondern geben einfach einer Empfindung Ausdruck. Ihre Worte sind quasi Auspuffgase einer verborgenen mentalen Maschinerie, die sie selbst nicht unter Kontrolle haben.
Irrtum und Irrsinn
Und hier stossen wir auf ein unheimliches Phänomen. In der Allianz von Unbeirrbarkeit und Logik manifestiert sich die oft erschreckende Rückseite unserer Vernunft. «Ausgehend von einem Irrglauben kann uns unerbittliche Logik ins Irrenhaus führen», bemerkte einmal der britische Wirtschaftstheoretiker John Maynard Keynes. Und er hatte damit nicht nur die Ökonomie im Auge. Der Irrsinn zeichnet sich durch erstaunliche logische Konsistenz aus, durch eine häufig stupende Raffinesse, sich in irrige Überzeugungen zu verbeissen. Vielleicht liesse sich Irrsinn gerade so definieren: Statt sein Weltbild der Welt anzupassen, kümmert man sich ausschliesslich um die logische Konsistenz des Weltbildes.
So betrachtet sind wir alle mehr oder weniger anfällig für Irrsinn. Wir hängen Überzeugungen an, die wir nicht oder nur unter grösstem Widerstreben aufzugeben bereit sind. Auch nicht, wenn Fakten gegen sie sprechen. Wir sind schlechte Falsifizierer. Das macht auch den Willen zur Ignoranz verständlich: Ich glaube fest an X; die Evidenz spricht aber gegen X; deshalb will ich von ihr nichts wissen.
Dieser Wille wird in einer überinformierten Gesellschaft aus drei Gründen stärker. Erstens gibt es ein wachsendes Misstrauen gegenüber den Wissenschaftlern, zum Beispiel in Fragen der Gesundheit und des Klimas. Zweitens können und wollen wir angesichts der Informationsflut und immer neuer Erkenntnisse unsere einmal gefassten Überzeugungen nicht ständig umbauen. Und drittens findet man in den Social Media stets Gleichgesinnte, mit denen man sich dank der Kohäsionskraft vorgefasster Überzeugungen gegenüber anderen Meinungen abkapseln kann.
Besser irren
Von Samuel Beckett stammt das vielzitierte Wort: «Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.» Der Spruch scheint mir wie massgeschneidert für die wissenschaftliche Erkenntnissuche zu sein; man muss nur «scheitern» durch «irren» ersetzen.
Besser irren heisst, nicht auf den ausgetretenen Wegen der Routine, des banalen Erfolgs, der Bestätigung des Bestehenden zu gehen. Besser irren bedeutet, unsere Ignoranz zu entdecken. Besseres Irren kann man nicht planen oder lernen, es geschieht einfach. Was man freilich lernen und üben kann, ist eine Haltung, die uns auf ein solches Irren vorbereitet, uns dafür öffnet.
Im gleichen Atemzug, in dem ich das sage, muss ich darauf hinweisen, dass eine solche Haltung im Grunde nicht in den heutigen Wissenschaftsbetrieb passt. Wer beim Nationalfonds um Unterstützung eines Projekts ersucht, wird sich hüten, zu schreiben, man wolle ein Gebiet erforschen, um sich darin besser irren zu lernen.
Und dennoch wäre dies die zutreffendste und auch aufrichtigste Charakterisierung von Wissenschaft: Die Kunst des klugen Irrens. Das heisst nicht, dass sie uns nur auf Irrwege führt, auch schliesst das nicht die Ausbeute robuster Erkenntnisse aus. Ich meine nur, dass wir damit den inneren Antrieb der wissenschaftlichen Erkenntnissuche – ihren Eros – besser umschreiben als mit dem Begriff der Wahrheitssuche.
Homo errans
Wir schmeicheln uns mit dem Label Homo sapiens – der wissende, vernünftige Mensch –, um daran unsere Einzigartigkeit im gesamten Naturreich festzumachen. Meiner Meinung nach wäre es besser, von Homo errans – vom irrenden, irrenkönnenden Menschen – zu sprechen. Das zeichnet unsere spezifischen Erkenntnisfähigkeiten angemessener aus. Im Besonderen setzt uns diese Charakterisierung in die Lage, sowohl die negative wie die positive Seite des Irrens zu sehen. Die negative Seite, das sind die Pseudogewissheiten, sozusagen die gefrorenen Irrtümer. Die positive Seite, das ist das Immer-wieder-Aufbrechen starrer Meinungen, sozusagen die verflüssigende Funktion des Irrtums.
Der Homo errans ist der Mensch, der seinen Weg selber sucht, dabei vielleicht Irrwege betritt, auf Abwege gerät, Holzwege einschlägt. Nur wer sich irren und verirren kann, kann auch fragen. Und sich verändern. Und geistig reifen.