Eigentlich sollte man meinen, der Beruf des Statistikers sei einer von der gemütlicheren Sorte. Der Zahlenmensch sitzt am Computer, sammelt Datensätze und macht daraus ein numerisches Gebilde, das u. a. Politikern dazu dient, Schlüsse für ihr Handeln zu ziehen. Oder sich zu brüsten. Tatsächlich ist der Job hochgefährlich.
Das erfährt derzeit die US-Beamtin Erika McEntarfer, Chefin des Bureau of Labor Statistics in Washington. Sie veröffentlichte dieser Tage die Arbeitsmarktzahlen für den Monat Juli. Die lagen deutlich tiefer als allgemein erwartet, lediglich 73’000 neue Stellen wurden geschaffen. Dazu kam, dass ihr Bureau auch die Juni-Zahlen dieser Stellenkategorie nach unten korrigieren musste, nämlich von 147’000 auf bescheidene 14’000.
Auf die Strasse gestellt
Das gefiel dem Weltenlenker im Weissen Haus ganz und gar nicht. Er fackelte nicht lange und ordnete an, Erika McEntarfer sei auf die Strasse zu stellen – dies mit der Begründung, sein Vorgänger, der Demokrat Biden, habe die Dame in das Amt geholt, und ihr erstes Anliegen seien somit nicht gute Statistiken, sondern solche, die ihm, dem Weltenlenker und seinen Republikanern, Schaden zufügen sollten. Also nichts als dunkle Machenschaften und Sabotage. Das belegte der moderne Absolutist, der, wie es scheint, keine Regeln, kein Parlament oder Gericht zu berücksichtigen braucht, zwar nicht, er handelte einfach nach dem Prinzip «es kann nicht sein, was nicht sein darf» und kündigte an, Leute in diesen Job zu holen, die kompetenter seien und – was anzunehmen ist – dem Chef brauchbare Zahlen abliefern werden.
Ein harter Schlag für Statistikerin McEntarfer! Da macht man seinen Job - und ist ihn, weil zuoberst im Hierarchiehimmel einer mit dem Finger schnipst, da ihm ein paar Zahlen nicht behagen, Knall auf Fall los.
An die Wand gestellt
Zu vermerken ist allerdings, dass es in dieser Berufssparte Vorkommnisse gibt, die um ein Mehrfaches dramatischer sind bzw. waren. Das krasseste Beispiel dafür, wie gefährlich dieser Job sein kann, dürfte das Schicksal sein, das anno 1937 Ivan Kraval und zahlreiche seiner Kollegen ereilte. Der damals 40-jährige Kraval war Chef der Statistischen Kommission, unter deren Leitung die Sowjetunion zu Beginn jenes Jahres eine Volkszählung durchführte. Die letzte hatte 1926 stattgefunden, aber in der Zwischenzeit plagierte der unumschränkte Herrscher Josef Stalin wiederholt mit der glänzenden Entwicklung des Riesenreichs: sinkende Sterbensraten, steigende Geburtenzahlen, höhere Lebenserwartung, kurzum, die Vitalität sei dergestalt, dass der Sowjetstaat jährlich um 3 Millionen wachse. Gemäss dieser Annahme des Herrschers hätte im Jahr 1937 die Einwohnerzahl 180 Millionen betragen müssen.
Das tat sie nicht. Die Zahlenliste, die Kraval und seine Leute dem Diktator vorlegten, wies lediglich 162 Millionen aus. Stalin war aufgebracht, erklärte das Ergebnis für ungültig, weil, so berichtete die Prawda, Volksfeinde das Resultat mit dunklen Machenschaften und Absichten verfälscht hätten, und er startete eine Verhaftungswelle. Ivan Kraval und zahlreiche Leiter regionaler Zensus-Büros wurden eingebuchtet und an die Wand gestellt. Ins Messer des Regimes liefen auch manche Statistiker, die als Ersatz für die liquidierten Berufskollegen aufgeboten wurden und dem Mann an der Spitze bessere Resultate liefern sollten. Sie hatten schlicht Angst, den Job anzutreten, und versuchten daher, sich dem Aufgebot zu entziehen. Solches ist in einem totalitären System mit grösseren Risiken verbunden.
Im heutigen Russland mag Putins Regime nicht mehr so rabiat repressiv sein wie einst. Doch für unbestechliche Statistiker könnte die Ausübung ihres Berufs wieder gefährlicher werden. Erstens sind die demographischen Kennzahlen miserabel und entsprechen ganz und gar nicht dem Bild, das die Kremlpropaganda von der russischen Gesellschaft zu verbreiten pflegt; zweitens feiert das Ungeheuer Stalin derzeit so etwas wie eine Wiedergeburt. Wehe dem, der ein kritisches Wort über ihn äussert oder dem unlängst in Moskaus Metro wieder errichteten Denkmal seine Reverenz auf die unerwünschte Art erweist.
Generell ist derzeit unverkennbar, dass im politischen Spitzenpersonal weltweit die Neigung zunimmt, die Wirklichkeit so darzustellen, wie sie dem Staatschef, dem Präsidenten, dem Parteichef, der Premierministerin … ins Konzept passt, und nicht, wie sie tatsächlich ist. Wogegen die Neigung, Regeln und Konventionen zu akzeptieren, sinkt. Das sind eher düstere Perspektiven für die Darsteller des Seins, zu denen auch die Statistiker zählen. Daher wäre es vielleicht angezeigt, wenn das International Statistical Institute einen Appell in die Welt hinausschicken würde – etwa unter dem Moto: «Statistiker aller Länder – seht Euch vor!»