«König der Spaziergänger» wird er auch genannt und als «Bummelgenie» bezeichnet, der Schriftsteller Robert Walser (1878–1956). Nicht umsonst wurde «Walsern» zum geflügelten Wort fürs Gehen, Wandern und Spazieren. Ein kurzer Gang auf Walsers Spuren.
Robert Walsers Werk gehöre zur poetisch genauesten und eindringlichsten Prosa der deutschsprachigen Literatur. Das hat uns der Deutschlehrer an der Mittelschule nahegelegt und dabei auf die Romane «Geschwister Tanner» und «Jakob von Gunten» verwiesen – und natürlich auf die präzisen Erzählungen. Viel zu wenige würden diesen Meister der Kurzprosa kennen und noch weniger ihn auch lesen, meinte er damals.
Walsers leichtfüssige Sprache
Heute ist der Schriftsteller Robert Walser längst kein Unbekannter mehr, mindestens was seinen tragischen Lebensausklang und auch seine Lebensweise anbelangt: ein leidenschaftlicher Spaziergänger mit Hut und Regenschirm, unsteter Mansardenbewohner, eifriger Schreiber für Zeitungen, zuletzt langjähriger Patient in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau.
Weniger bekannt dagegen sind Walsers Gedichte. (1) Sie erzählen von dem, was einem Spazier- und Einzelgänger widerfährt und ans Herz rührt: vom Schnee und von den Bäumen, von einem hübschen Mädchen und von den Sternen, von der Einsamkeit – oder seinem Alltag, der von einem Korsett aus Konventionen geschützt und zugleich bedroht ist. Die Themen wechseln, eines aber bleibt an Walsers Gedichten unverändert: die leichtfüssige Sprache, die den Leser streichelt, kratzt, hellhörig machen kann für das Staunenswerte seines Lebens, so der Walser-Kenner Werner Hegglin. (2)
Das Gehen als Inspirationsquelle
Dieses Staunenswerte wird auch in Walsers Gedanken zum Gehen und Wandern spürbar. Fasziniert hat mich seine Erzählung «Der Spaziergang»; erschienen ist sie 1917. In diesem ganztägigen, vielfach unterbrochenen Stadt- und Landbummel kommt eine Art Philosophie des Gehens und Wanderns zum Ausdruck.
Spazierengehen ist für Walser so etwas wie eine existenzielle Notwendigkeit: «‹Spazieren›, gab ich zur Antwort, ‹muss ich unbedingt, damit ich mich belebe und die Verbindung mit der Welt aufrechterhalte, ohne deren Empfinden ich weder einen halben Buchstaben mehr schreiben noch ein Gedicht in Vers oder Prosa hervorbringen könnte.›» (3) Das Gehen als Inspirationsquelle und gleichzeitige Conditio sine qua non für sein literarisches Schaffen, das Wandern als Metapher für den Schreibvorgang selbst.
Tausend brauchbare, nützliche Gedanken
Robert Walser verbindet das Gehen mit dem Denken. Er selbst ist ein passionierter Wanderer, wie beispielsweise der Philosoph Friedrich Nietzsche. Von ihm, dem Schocker unter den Philosophen, stammt der Rat: «So wenig wie möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. […] Das Sitzfleisch ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.» (4) Nietzsche ist stundenlang gewandert, oft im Engadin.
Auch Walser muss sein «Schreib- und Geisterzimmer» verlassen, muss sich im Freien bewegen und in der Aussenwelt Eindrücke sammeln. Das Gehen in der Natur führt zur literarischen Arbeit, der Austausch zwischen dem armen Poeten und seiner Umwelt inspiriert das schriftstellerische Tun. «Auf einem schönen und weitschweifigen Spaziergang fallen mir tausend brauchbare, nützliche Gedanken ein. Zu Hause eingeschlossen, würde ich elendiglich verkommen und verdorren.» Migrantes Denken – denn beim Sitzen kommen kaum Ideen.
Dem früh stillgewordenen Dichter nahekommen
Robert Walser liebt «alles Ruhige und Ruhende»: Er ist «allem Gehast und Gehetz im tiefsten Innern abhold». Vielleicht eine der schönsten literarischen Stellen in Walsers «Der Spaziergang» ist die Szene im Tannenwald. Die Stille und Geborgenheit der Natur ergreifen den Erzähler: eine berührende Textpassage, in der sich poetische Schwärmerei mit einer leisen Todessehnsucht verbindet. Dieses Miteinander von Eros und Thanatos geht mir nahe und bewegt mich. Und es fasziniert wohl viele Walser-Leserinnen und -Leser. So kommen sie dem Rätsel des stillen und früh stillgewordenen Robert Walser recht nahe: «Hier tot zu sein und in der kühlen Walderde unauffällig begraben zu liegen, müsste süss sein. Dass man im Tode doch auch den Tod noch fühlen und geniessen dürfte!» (5)
Diese Passage zeigt Walsers Fähigkeit, Naturerlebnis, Melancholie und Lebensfreude in kunstvoller Sprache zu verweben. Die Stille des Waldes wird zum Spiegel einer glücklichen Menschenseele, die Natur zum «lieben grünen Grab» und zugleich zum Ort tiefster Inspiration und Dankbarkeit.
Wandern als Akt der Befreiung
Vor einem Jahr ist eine lesenswerte Anthologie mit Spaziergangstexten des «Schlenderers und Herumfegers» Robert Walser publiziert worden. Es ist unterhaltsame Kurzprosa zum Wandern übers Land, auf den Berg und in Gedanken. (6)
Beim Gehen fühlt sich der Flaneur Walser «himmlisch frei zu Mut und wohl ums Herz» – so «als bewege sich die ganze runde Welt leicht mit mir fort. Alles schien mit dem Wanderer zu wandern: Wiesen, Felder, Wälder, Äcker, Berge und schliesslich noch die Landstrasse selber». Das Wandern wird für Walser zu einem Akt der Befreiung, des inneren Wohlbefindens und des Einswerdens mit der Welt.
(1) Robert Walser (2022), Die Gedichte. 8. Aufl., Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch 1113
(2) Eingehender mit Robert Walser bekannt gemacht hat mich der ehemalige Direktor des Lehrerseminars Zug, P. Dr. Werner Hegglin; vgl. Ders. (2019) Menscheisein ist schon ein Beruf. Gesammelte Briefe, hrsg. von Christoph Schwyzer. Regensburg: Pustet, S. 517f
(3) Robert Walser (2021), Der Spaziergang. Prosastücke und Kleine Prosa. 16. Aufl., Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch 1105, S. 50. Ein Unterrichts-Lehrstück zu Walsers «Spaziergang» hat die Gesellschaft für Lehrkunstdidaktik erarbeitet; vgl. https://www.youtube.com/watch?v=bHZZTYvXhLo [abgerufen: 11.07.2025]
(4) Friedrich Nietzsche (2000), Langsame Curen. Ansichten zur Kunst der Gesundheit. Hrsg. von Mirella Carbone und Joachim Jung. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder, S. 47
(5) Walser (2021), S. 31.
(6) Robert Walser (2024), Spazieren muss ich unbedingt. Vom Gehen über Stadt und Land. Berlin: Insel Verlag.
Eben ist eine neue Biografie erschienen:
Susan Bernofsky (2025), Hellseher im Kleinen. Das Leben Robert Walsers. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Berlin: Suhrkamp Verlag.