Die Weltbevölkerung wächst immer noch, sie liegt inzwischen bei acht Milliarden Menschen. Doch in Europa und teilweise in Asien macht man sich über die stark sinkenden Geburtenraten der einheimischen Bevölkerung akute Zukunftssorgen. Apokalyptische Überbevölkerungs- oder Schrumpfungsprognosen sind jedoch bisher immer widerlegt worden.
Seit einigen Jahren wird es namentlich in Europa im öffentlichen Diskurs deutlicher erkennbar: Neben den Schreckensvisionen einer weltweiten oder nationalen Überbevölkerung schieben sich immer mehr auch besorgniserregende Debatten über sinkende Geburtenraten und deren gesellschaftlichen Folgen in den Vordergrund. Tatsache ist: In ganz Europa, aber auch in grossen Ländern wie Japan, Russland und neuerdings auch in China sind die Geburtenraten markant unter die Zahl von 2,1 Kindern pro Frau gesunken, die für die zahlenmässige Erhaltung einer Gesellschaft notwendig ist.
Weniger Dichtestress, aber zu wenig Arbeitskräfte
In der Schweiz wird diese statistische Rate heute mit 1,4 Kindern pro Frau angegeben, vor sechzig Jahren waren es noch 2,4 Kinder. In der EU liegt die Fruchtbarkeitsrate im Durchschnitt bei 1,46, in China inzwischen unter 1,1 Kind pro Frau. Entsprechend ist im Reich der Mitte die Gesamtbevölkerung seit 2022 erstmals geschrumpft. Mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen ist jetzt Indien das bevölkerungsreichste Land der Welt. Besonders krass sind die Geburtenzahlen im technisch hochentwickelten Südkorea geschrumpft, sie liegen jetzt bei 0,72 Kindern pro Frau.
Auf den ersten Blick müssten solche schrumpfenden oder stagnierenden Bevölkerungszahlen eigentlich Erleichterung auslösen. Endlich Aussicht auf weniger Dichtestress auf unserem Planeten, weniger überfüllte Verkehrsmittel und mehr Wohnraum, mehr Lebensmittel für eine geringere Weltbevölkerung! Doch bei näherer Betrachtung schieben sich bald auch höchst problematische Aspekte ins Bild: Vor allem die akute Überalterung von Gesellschaften, in denen es an ausgleichendem Nachwuchs fehlt. Wo sollen die Arbeitskräfte herkommen, um technisch hochentwickelte Gesellschaften in Gang zu halten? Wer betreut die überproportional wachsende Zahl von arbeitsunfähigen oder gebrechlichen alten Menschen? Wo sollen neue Ideen herkommen, wenn es an jugendlichem Nachwuchs fehlt?
Zuwanderung – mehr Fachkräfte als Asylanten
Um solche sich abzeichnende Probleme zu entschärfen, werden in manchen betroffenen Ländern zum Teil finanziell aufwendige Massnahmen ergriffen, um den Geburtenrückgang aufzuhalten: Kinderzulagen und Steuerabzüge für Familien, verlängerter Elternurlaub für junge Mütter und Väter bei Neugeburten, staatlich subventionierte Kinderbetreuung und so weiter. Doch solche sozialen Investitionen haben die sinkenden Geburtenraten in den betroffenen Ländern nicht wesentlich aufgehalten. Frankreich gibt unter den OECD-Ländern den höchsten Prozentsatz des Volkseinkommens für die Familienförderung aus, doch 2023 wurde dort laut einem Bericht in der Zeitschrift «The Atlantic» die niedrigste Geburtenzahl seit 1945 ausgewiesen. Südkorea soll in den vergangenen 16 Jahren laut der gleichen Quelle über 200 Milliarden Dollar für höhere Geburtenraten ausgegeben haben, die Fertilität ist in diesem Zeitraum dennoch um 25 Prozent gesunken.
In vielen anderen Ländern, inklusive die Schweiz, wird der durch abnehmende Geburten mitverursachte Arbeitskräftemangel seit Jahren durch Zuwanderung und Anwerbung von Beschäftigten kompensiert. Dieser Zustrom ist zwar für die materielle Wirtschaftsentwicklung eines Landes insgesamt vorteilhaft, provoziert aber gleichzeitig soziale Integrationsprobleme und tangiert die historisch gewachsene nationale Identität. Rechtspopulistische Parteien wie die SVP schlagen aus diesen Problemen politisches Kapital, indem sie die komplexen Zusammenhänge einseitig auf die Migration von Asylbewerbern reduzieren und propagandistisch behaupten, es kämen «die Falschen» ins Land. In Tat und Wahrheit machen die Asylsuchenden nur einen kleinen Teil der gesamten Zuwanderung in unser Land aus.
Höheres Pensionsalter als Entlastung
Unbestreitbar aber gibt es grundlegende Zielkonflikte zwischen den Problemen einer schrumpfenden Bevölkerung und den Bemühungen, den Arbeitskräftemangel durch Zuwanderung auszugleichen. Die Schweizer Stimmbürger werden voraussichtlich im kommenden Jahr bei der Abstimmung über die SVP-Initiative zur «Zehn-Millionen-Schweiz» Gelegenheit haben, darüber zu entscheiden, welches Zielperspektive sie höher einschätzen: eine bevölkerungsmässig stagnierende oder schrumpfende Schweiz mit tendenziell abnehmender Wirtschaftsleistung oder eine wachsende Schweiz mit tendenziell dynamischer Wirtschaftsentwicklung.
Es gibt es aber auch andere konkrete Lösungen, um die Konsequenzen sinkender Geburtenraten auszugleichen. Das Stichwort heisst Arbeitszeitverlängerung oder genauer: Erhöhung der Pensionierungsgrenze. Weil die Menschen in hochentwickelten Gesellschaften dank medizinischen Fortschritten und besserer Ernährung heute deutlich länger leben und fit bleiben als in früheren Zeiten, erscheint ein höheres oder wenigstens flexibles Pensionsalter für die meisten Berufe inzwischen durchaus zumutbar, in vielen Fällen sogar wünschbar.
Das könnte erheblich zur Entlastung des tendenziell wachsenden Arbeitskräftemangels beitragen. Allerdings scheint die Bereitschaft zu einer solchen Lösung vorläufig noch gering. In der Stadt Zürich etwa sind neue Initiativen für die Einführung der 35-Stunden-Woche für alle städtischen Angestellten lanciert worden. Die abschreckenden Folgen, die Frankreich durch seine erdrückenden Staatsschulden mit dieser vermeintlich beglückenden Regelung zu spüren bekommt, scheinen noch nicht genügend einzuleuchten.
KI und die Unberechenbarkeit der Zukunft
Andere Möglichkeiten zum Ausgleich sinkender Geburtenraten in modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften vermutet der britische «Economist» auf dem Zukunftsgebiet der künstlichen Intelligenz (KI) oder weiterer vorläufig noch unbekannter Technologien, die die Menschheit in Zukunft entwickeln könnte. Das tönt noch reichlich vage und nach Zweckoptimismus. Doch wenn man bedenkt, was allein in den letzten paar Jahren in Sachen KI alles möglich gemacht wurde und wie das die Arbeitswelt oder die Lebenswelt etwa in japanischen Altersheimen beeinflusst und teilweise umgekrempelt hat, sollte man solche Spekulationen vielleicht nicht nur als weltfremde futuristische Hirngespinste abtun.
Namentlich aber sollte man nicht aus den Augen und dem Sinn verlieren, dass bisher noch alle apokalyptischen Prognosen über weltweite Hungersnöte durch «Bevölkerungsexplosionen» oder über den Untergang des Abendlandes durch schrumpfende Geburtenraten und unkontrollierbare Migration widerlegt worden sind. Auch für demografische Voraussagen gilt offenbar, was im Prinzip für alles zutrifft, was mit Zukunft zu tun hat: Es bleibt unsicher und unberechenbar.