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Ukraine

Selenskyjs kapitaler Fehler – aber die Demokratie lebt

28. Juli 2025
Reinhard Meier
Reinhard Meier
Kiew, Demonstranten
Demonstranten in Kiew gegen den versuchten Eingriff in die Unabhängigkeit von Antikorruptionsbehörden. Die Aufschrift auf dem Plakat lautet: «Nehmt uns wenigstens nicht unsere Hoffnung». (Foto: Keystone/EPA/Rostyslav Averchuk)

Der ukrainische Präsident hat mit der Eingrenzung unabhängiger Antikorruptions-Organe sich selber und seinem Land schwer geschadet. Doch nach energischen inneren und äusseren Protesten soll der Fehler korrigiert werden. Die Demokratie lebt noch in dem überfallenen Land – anders als im Land des Aggressors.

Für einmal sind sich Freunde und Verleumder der überfallenen Ukraine einig: Präsident Selenskyj hat in der vergangenen Woche mit dem übereilten Durchpeitschen im Parlament eines Gesetzes zur Beschneidung der Unabhängigkeit zweier zentraler Institutionen zur Korruptionsbekämpfung einen üblen Fehler begangen. Die westlichen Verbündeten der Ukraine sind entsetzt über diese Nacht- und Nebel-Aktion, die Putin-Propagandisten in Ost und West reiben sich selbstzufrieden die Hände und verkünden eine «Selenskyj-Dämmerung».

Korruptions-Ranking in Russland und in der Ukraine

Tatsächlich bleibt unverständlich, weshalb Selenskyj, der seit dreieinhalb Jahren sein Land im Kampf gegen Putins mörderischen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit bewundernswerter Energie anführt und antreibt, sich zu einem derartigen Fehltritt versteigen konnte. Die Schaffung der unabhängigen Antikorruptions-Untersuchungsbehörde Nabu und der speziellen Staatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung SAPO waren nach dem Maidan-Volksaufstand von 2014 auf nachhaltigen Druck westlicher Geldgeberländer und vor allem der EU durchgesetzt worden. 

Das war notwendig, weil die Ukraine – übrigens wie die meisten postsowjetischen Länder mit ihren stark oligarchisch durchsetzten Finanzstrukturen – als besonders anfällig für korrupte Machenschaften galt. Natürlich ist das Krebsübel Korruption seither noch längst nicht unter Kontrolle gebracht, doch es gibt einige Fortschritte zu verzeichnen. Heute liegt die Ukraine im Ranking von Transparency International auf Platz 105 von 180 Ländern, vor zehn Jahren besetzte sie noch Platz 130. Russland dagegen, dessen Propagandisten das überfallene Nachbarland gerne als hoffnungslos korrupt anschwärzen, rangiert mit Platz 154 sehr viel weiter hinten auf der dieser Liste. 

Ungeklärte Motive 

Dennoch bleibt die Frage vorläufig unbeantwortet, wie Selenskyj und seine Entourage auf die völlig abwegige Idee kommen konnten, die Unabhängigkeit der beiden Antikorruptionsorgane praktisch aufzuheben, indem sie deren Führungspositionen in einem verdächtigen Eilverfahren der Generalstaatsanwaltschaft unterstellten. Diese wiederum sind vom Präsidenten und der von seiner Partei kontrollierten Parlamentsmehrheit abhängig.  Diese Instanzen können den Generalstaatsanwalt weitgehend nach eigenem Gutdünken abberufen oder neu besetzen. 

Sollte der mittlerweile im politischen Geschäft keineswegs unerfahrene Selenskyj allen Ernstes geglaubt haben, ein solcher Winkelzug würde in der wachen ukrainischen Gesellschaft unbemerkt und ohne Aufschrei durchgehen? Und selbst wenn dies entgegen aller Wahrscheinlichkeit der Fall gewesen wäre – wie konnte er auf den Gedanken kommen, dass ein solcher Eingriff von den westlichen Bündnispartnern geschluckt würde? Falls er auf solche Reaktionen spekuliert hat, muss man ihm in dieser Frage tatsächlich einen gewichtigen Mangel an politischem Urteilsvermögen vorhalten. 

Dass gilt auch für den Fall, dass dem ukrainischen Präsidenten die Risiken seines Eingriffs in die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden zwar einigermassen bewusst waren, dass er sich aber trotzdem zu diesem Manöver entschloss, weil er damit drohende Untersuchungen dieser Behörden gegen sich oder enge Vertraute unbedingt verhindern wollte. Was immer seine genauen Motive waren, wird sich möglicherweise in den kommenden Wochen näher klären. Fest steht aber heute schon: Selenskyj hat sich innen- und aussenpolitisch in dieser Sache fatal verrechnet. 

Ermutigende Folgen des Fiaskos

Dieser Fehlschlag und seine dubiosen Hintergründe hat indessen auch gute Seiten der ukrainischen Wirklichkeit ins Bewusstsein befördert: Die ukrainische Demokratie lebt und ist kein Fake-Zustand, wie ihre Kritiker und einäugigen Herabwürdiger seit langem behaupten. Die spontanen, tagelang andauernden Proteste in Kiew und anderen ukrainischen Städten gegen die durchgepeitschten Massnahmen zur Gängelung der beiden Antikorruptions-Organe haben mit Sicherheit wesentlich zum schnellen Rückzug Selenskyjs von diesem Manöver beigetragen. 

Nicht weniger gewichtig wirkten ebenso die energischen Mahnungen und Anrufe aus Brüssel, Berlin und anderen westlichen Hauptstädten. Darin war offenkundig auch die Warnung herauszuhören, dass die Fortsetzung der westlichen Hilfe für die Ukraine durch eine Schwächung des Antikorruptionskampfes in diesem Land politisch ernsthaft gefährdet würde. 

Solche ermutigenden Folgen und Wirkungen von Selenskyjs krassem Fehler in Sachen Korruptionsbekämpfung werden von den Ukraine-Verächtern und Putin-Anbiederern grosszügig ausgeblendet oder vom Tisch gewischt. Von dieser Seite wird geflissentlich übergangen, dass Protestdemonstrationen mit Tausenden von Teilnehmern gegen die Regierung, wie sie in den vergangenen Tagen in ukrainischen Städten zu sehen waren, in Putins Russland seit dem Beginn des Überfalls mit brachialer Gewalt und Einschüchterung verunmöglicht bleiben. Kriegstreiber ist aus dieser perversen Täter-Opfer-Umkehr-Perspektive nicht der Aggressor im Kreml, der jedes vernünftige Waffenstillstands-Angebot torpediert, sondern die angeblich faschistische Regierung in Kiew und ihr heroisch kämpfendes Volk. 

«Wir sind nicht Russland»

«Wir sind nicht Russland», hiess es auf Plakaten, die in der vergangenen Woche unter den Demonstranten in Kiew gegen den versuchten Eingriff in die Unabhängigkeit der Antikorruptions-Behörden zu sehen waren. Treffender könnte man die politischen Welten, die heute die beiden Nachbarländer voneinander unterscheiden, nicht auf den Punkt bringen. Parlamentarisch besiegelt ist die von Selenskyj versprochene Korrektur der umstrittenen Gesetzesänderung zwar noch nicht. Doch die regierungskritischen Demonstranten in den ukrainischen Städten versichern, dass sie ihre Manifestationen fortsetzen werden, bis dieser Prozess festgezurrt ist. 

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