Das Landesmuseum in Zürich nimmt den 150. Geburtstag von C. G. Jung, der am 26. Juli begangen wurde, zum Anlass einer Ausstellung über die «Entdeckung der Psyche in der Schweiz». Stefan Zweifel nennt seine Schau «Seelenlandschaften – eine kleine Psychogeographie der Schweiz».
C. G. Jung, als Gärtner verkleidet, setzt sich im Garten seines burgähnlichen Anwesens bei Bollingen am Oberen Zürichsee in einen Lehnstuhl. Die herbeieilende Angestellte bringt ihm sogleich ein Notizbuch, damit er allfällige Geistesblitze notieren kann. Zu sehen ist die Szene in der Grossprojektion eines alten Super-8-Films. In der Nähe ist, in einer dem Reliquien-Charakter des Objektes angemessenen Vitrine, Jungs «Rotes Buch» ausgestellt, in dem der Meister seine Träume in Kalligrafie notierte und illustrierte.
An einer Wand sind Aquarelle von Hermann Rorschach (1884–1929) zu sehen: Klecksmalereien, die der Psychiater für die nach ihm benannten Tests verwendete, oder Zwangsjacken, Modelle von Deckelbädern, Fotos nackter Frauen im «hysterischen Bogen», von Männern – Ärzten, Psychiatern? – beobachtet. Weiter Johann Caspar Lavaters (1741–1801) Bilder von menschlichen Gesichtern, die er seiner Physiognomik zugrunde legte, sowie Erinnerungen an Roland Kuhn (1912–2005). Für die einen ist Kuhn, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, ein Pionier der Antidepressiva wie Tofranil. Die andern klagen ihn des Missbrauchs der Patienten als Versuchskaninchen an. Was auch nicht fehlt: eine Vitrine mit Spielen, die dem Genfer Jean Piaget (1896–1980) zur Erforschung der kindlichen Entwicklung dienten.
Einen Auftakt zum Ganzen bilden eine Marmorbüste Nietzsches mit monumentalem Schnauz sowie einige Landschaften Caspar Wolfs. Sie sollen wohl für den Begriff «Seelenlandschaften» stehen. (Was – bei allem Pioniercharakter Wolfs – von fast jeder qualitativ hochstehenden Landschaftsmalerei gelten könnte.) Den Abschluss bildet eine Installation: Die Künstlerin Heidi Bucher (1926–1993) häutete das Sprechzimmer von Ludwig Binswanger, Psychiater und Leiter des Sanatoriums «Bellevue» in Kreuzlingen, in Latex ab. Es hängt nun, als symbolträchtiges fragiles Kunstwerk, im grossen Treppenhaus des Landesmuseums.
Grosse Bandbreite
Die Bandbreite der Ausstellung ist gross. Stefan Zweifel, ihr Hauptverantwortlicher, leistete im Rahmen des Möglichen umfassende Dokumentationsarbeit und sorgte für eine abwechslungsreich-bunte, auch Kritik nicht ausblendende – etwa den Antisemitismus Jungs und seine Nazi-Nähe – Ausstellung, die alle verfügbaren Medien nutzt: Bild, Text, Video, Film, Kunstwerke mit Literatur, Skulptur, Malerei, Installation.
Zu erleben ist die Ausstellung als lebendige Inszenierung, die Einblick gibt in eine «kleine Psychogeographie der Schweiz» (so Zweifel). Sie feiert die Bedeutung der Schweiz als für die noch neue Psychoanalyse bahnbrechendes Land. Chronologisch aufgebaut, also retrospektiv, beginnt sie mit düsteren Bildern einer im tiefsten 19. Jahrhundert verwurzelten Zwangsjacken-Psychiatrie, die heute als Geschichte abgelegt und archiviert werden kann. Sie fährt fort mit dem Fragen und Suchen von Pionieren wie Eugen Bleuler, Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Hermann Rorschach, Otto Gross, Paul Parin und anderen nach der«Seele» als Lebensgrund und Motivation allen Tuns und Denkens. Sie will eine Übersicht über die Entwicklung der Psychologie und der Psychiatrie in der Schweiz bieten und behandelt anhand ausgewählter bekannter Beispiele Zusammenhänge zwischen psychischer Erkrankung und Kreativität, ohne einem billigen Trend zur (oft nicht sehr fundierten) «Antipsychiatrie» zu verfallen. Und sie basiert auf einem Netzwerk unter den Beteiligten, die – Ärzte und Patientinnen – sich alle kannten und teils auch befehdeten, regen Austausch untereinander pflegten und sich auf Kongressen trafen.
Zu viel gewollt
Ein Meisterstück der Kulturvermittlung also? Das Fragezeichen ist berechtigt: Die Ausstellung ermüdet durch ihre Vielfalt. Die Besucherinnen und Besucher – mehr als 90 Minuten verbringen die meisten Leute nicht in einer Ausstellung, und die wenigsten gehen ein zweites Mal hin – ermüden ob der Fülle der Informationen und ob der umfangreichen Lektüre. Und überdies: Die Vielschichtigkeit der Fragestellungen lässt sich mit dem Medium der Ausstellung nur schwer oder gar nicht aufarbeiten.
Beispiele: Der österreichische Psychiater Otto Gross (1877–1920), im ganzen Themenkomplex der Ausstellung wohl ein Randphänomen, war selber schwer drogenabhängig, aber spannend als der erste seines Faches, der aus der Psychoanalyse politische Schlüsse zog und zum Anarchisten wurde. Er pendelte zwischen Freud und Jung, pilgerte auf den Monte Verità, den Lebensreformer-Berg hinter Ascona. Über ihn schrieb der Zürcher Emanuel Hurwitz, selber Psychiater und (linker) Politiker, ein Buch («Otto Gross. Paradiessucher zwischen Freud und Jung», erschienen 1979). Was sich in Otto Gross abspielte, lässt sich auf einer Schautafel nicht darstellen. Da ist mindestens der Katalogbeitrag von Stefan Zweifel – oder, besser, Hurwitz‘ Buch – zu lesen.
Oder: Jungs «Rotes Buch» lässt sich wohl, in der Vitrine, aufgeschlagen zeigen, aber wirkliche Einsicht erhielte nur, wer darin blättern könnte, was naturgemäss nicht möglich ist.
Oder der Tänzer Vaclav Nijinsky (1888–1950): Ohne Kenntnis seiner originalen Tagebuchaufzeichnungen («Ich bin ein Philosoph, der fühlt») ist kaum zu ahnen, wie es um den berühmtesten Ballett-Star seiner Zeit wirklich bestellt war, der ab 1919 während rund dreissig Jahren in Schizophrenie-bedingter geistiger Umnachtung verbrachte, und der – wie der geniale Kunsthistoriker Aby Warburg, der Maler Ernst Ludwig Kirchner und andere europäische Prominenz – Patient Ludwig Binswangers im «Bellevue» in Kreuzlingen war.
Vielleicht wäre bei Otto Gross oder Nijinsky gänzliches Weglassen besser gewesen als ein kurzes Erwähnen. Vielleicht auch sind Ausstellungen zu so grossen und breit aufgefächerten Themenkreisen gar nicht zufriedenstellend zu präsentieren. Stefan Zweifel stand vor einer unlösbaren Aufgabe.
Ausfransende Ränder
Auch in anderen Fällen erscheinen einzelne Informationen in der Ausstellung allzu verkürzt, sodass ein Zusammenhang mit «Seelenlandschaften», wenn überhaupt vorhanden, nicht zwingend erscheint. So ist die Biographie der Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach wohl spannend, doch eine allfällige Psychose der aus einer der reichsten Familien der Schweiz stammenden Schriftstellerin und Journalistin steht kaum in schlüssigem Zusammenhang mit ihrem Werk. Die Therapien in Kliniken, denen sie sich unterzog, hatten mit ihrem Drogen-Abusus zu tun. Auch ihre Reise im von der Mutter geschenkten teuren Auto nach Kabul (auf Anordnung der Mutter zusammen mit Ella Maillart) gehört in diesen Kontext, auch wenn sie erfolglos blieb und Maillart auf der Reise Kontakte Schwarzenbachs mit dem Drogen-Milieu nicht verhindern konnte. Ebenso hatte Friedrich Glauser mit Psychiatern vor allem wegen seiner Drogensucht zu tun, auch wenn er seinen Rauschzustand auf eindrückliche Weise literarisch umsetzte. Und auch Kirchner war in Behandlung bei Binswanger, weil er sich vom Drogenkonsum lösen wollte.
Die Künstlerin Annemarie von Matt hat, bei aller Originalität und Tiefgründigkeit ihrer Produktion, kaum ernsthaft als Vertreterin einer «Antipsychiatrie avant la lettre» zu gelten. Was Emma Kunz‘ Diagramm-Zeichnungen in der Nähe zum «Roten Buch» Jungs sollen, bleibt unklar. Vielleicht ist die formale Nähe zu Mandalas, wie C. G. Jung sie pflegte, gemeint. Das Konzept der Ausstellung erweist sich im Detail als unklar. Die Ränder fransen aus.
Auslassungen
Auch wenn die Ausstellung Kritisches nicht grundsätzlich ausblendet: Die Frage der Zulässigkeit psychiatrischer «Eingriffe» in die Persönlichkeit (die «Seele») der Patientinnen und Patienten wird nicht diskutiert, ebenso jene der Rechte an ihren «Produktionen». Die über 10’000 Bilder von Patientinnen und Patientinnen, die C. G. Jung sammelte, gehören nicht dem Psychiater oder einer Klinik, sondern allein den Urhebern. Im Katalog lautet die Legende aber meist schlicht und anonym «Patientenbild». Ausgeklammert, weil im Ausstellungskontext kaum zu beantworten, bleibt auch die Frage, wie weit die Pioniere und spätere Vertreter der Psychoanalyse ihre Untersuchungen am lebenden Objekt anstellten, um den Patientinnen und Patienten zu helfen, oder ob es auch oder gar vor allem um die eigenen akademischen Lorbeeren und um das Ich der Therapeuten ging.
Ein Psychiater und ehemaliger Klinikleiter, den ich in der Ausstellung traf, vermisste überdies einen Blick in die unmittelbare Gegenwart und in die Zukunft seiner Disziplin: Wie geht es weiter? Welche Aufgaben stellen sich und wie sind sie zu bewältigen? Möglich, dass die Ausstellungsmacher die Antworten darauf nicht als ihre Aufgabe betrachteten.
Der Katalog bietet manches, was man in der Ausstellung vermissen mag, weil sie es nicht bieten kann: Stefan Zweifel äussert sich zur Geschichte der Psychiatrie in der Schweiz und blickt auch auf die unmittelbare Gegenwart und ihre gesellschaftlichen Problemstellungen. Es finden sich überdies Essays zahlreicher Fachleute, Auszüge aus historischen Dokumenten – darunter auch das berühmten Hamlet-Zitat, mit dem Jung am 6. Januar 1913 seine Beziehungen zu Freud beendete: «Der Rest ist Schweigen» – sowie eine nachdenklich stimmende und in den Themenkreis der Ausstellung bestens passende Äusserung von Blaise Cendrars: «Die ‘Krankheit’ ist vielleicht die ganz ‘grosse Gesundheit’.»
Nicht zu finden ist aber die Aussage Jean Dubuffets im Zusammenhang mit Adolf Wölflis in der Ausstellung vertretenem Werk. Sinngemäss sagte der «Vater des Art brut», die Schweizer seien selten verrückt, aber wenn schon, seien sie besonders kreativ und auf originelle Weise verrückt. Überliefert hat den Spruch Harald Szeemann im Katalog zu seiner wegweisenden Ausstellung «Visionäre Schweiz» (1991). Dubuffets Spruch passt bestens zu einem Teil der Ausstellung «Seelenlandschaften».
Landesmuseum Zürich, bis 15. Februar 2026
Katalog, herausgegeben von Stefan Zweifel und Pascale Meyer, erschienen im Verlag Scheidegger & Spiess, 206 Seiten, 37 Franken