Direkt zum Inhalt
  • Politik
  • Kultur
  • Wirtschaft
  • Gesellschaft
  • Medien
  • Über uns
close
Gaza

«Moralisch und rechtlich unzumutbar»

13. Juli 2025
Ignaz Staub
Ignaz Staub
Totenklage in Gaza
Angehörige trauern um den 13-jährigen Seraje Ebrahim, der beim Wasserholen von einem israelischen Luftangriff getötet wurde. Die Szene spielt sich am 13. Juli 2025 beim Al-Awda-Spital in Nuseirat im Zentrum des Gazastreifens ab. (Keystone/AP Photo, Abdel Kareem Hana)

Trotz laufender Gespräche über einen Waffenstillstand in Gaza greift die israelische Armee (IDF) weiter mit unverminderter Brutalität an. Unter den jüngsten Opfern: eine Gruppe von Frauen und Kindern vor einer Klinik in Deir al-Balah. Während auch die physische Zerstörung Gazas ungebremst weitergeht, schockiert ein Plan Israels, die Bevölkerung Gazas in eine «humanitäre Stadt» einzusperren. Kritiker nennen sie ein «Konzentrationslager». 

«Die Israelis reden noch immer über Verhandlungen und begehen parallel dazu weitere Massaker», bemerkte Eyad Amawi, Direktor des Al-Aqsa-Märtyrerspitals in Deir al-Balah. In sein Krankenhaus waren am letzten Donnerstag die Opfer eines israelischen Luftangriffs auf eine Klinik der US-Hilfsorganisation «Project Hope» eingeliefert worden. «Diese Menschen versuchten, ihre Kinder zu ernähren», sagte der Spitaldirektor. 

Laut Unicef hat in den jüngsten Monaten die Unterernährung bei Kindern in Gaza »in alarmierendem Ausmass» zugenommen. Allein im Mai sind mehr als 5’000 Kinder zwischen sechs Monaten und fünf Jahren als akut mangelernährt diagnostiziert worden.

Die Attacke in Deir al-Balah tötete mindestens 17 Menschen, unter ihnen zehn Kinder, die vor dem Eingang der Klinik auf das Öffnen der Einrichtung gewartet hatten. Mehr als dreissig Personen, unter ihnen noch weitere Kinder, wurden verletzt. Die Einrichtung von «Project Hope» bietet Schwangerschafts- und Ernährungsberatung an. «Das ist eine flagrante Verletzung internationalen Rechts», sagte Rabih Torbay, Direktor der amerikanischen NGO.

Schreckliche Videos 

«Haaretz»-Journalist Gideon Levy hat am Sonntag in seiner Kolumne Videos des Luftangriffs beschrieben, die CNN und andere Medien erhalten haben: «Zuerst hört man die Schreie, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Dann zoomt die Kamera heran, während die Strasse von Staub und Trümmern des Bombenangriffs aufgewirbelt wird. Das erste Bild zeigt eine kleine Gruppe von Müttern und Babys, die sich aneinanderklammern. Eine der Mütter liegt auf dem Rücken und scheint bereits tot zu sein. Eine andere kauert über ihrem leblosen Baby, das auf dem Bürgersteig liegt. Eine dritte Frau umklammert ihr Baby – es ist unmöglich zu sagen, ob es lebt oder tot ist –, während eine ältere Frau neben ihr sitzt, benommen und still.» 

Der zornige Kolumnist nennt diese Videos (…) «das Guernica des Vernichtungskriegs Israels in Gaza. Jeder Israeli muss dieses Guernica sehen. Doch fast kein Israeli hat es gesehen, und fast kein Israeli wird es jemals sehen». In Neve Ilan, dem Sitz der Nachrichtensender Channel 12 und Channel 13, hätten die Propagandisten und Gehirnwäscher beschlossen, dass die Israelis den Völkermord in Gaza nicht miterleben müssen: «Auch diese Entscheidung wird als Journalismus bezeichnet werden.» 

Gideon Levy meint dokumentierte Szenen wie diese, die in Israel niemand sehen will: «Nicht weit entfernt liegt ein junges Mädchen ausgestreckt auf dem Bürgersteig, ihre Beine ragen auf die Strasse hinaus. Sie ist tot. Ein verängstigtes Kleinkind vergräbt sein Gesicht im Schoss seiner Mutter. In der Nähe sitzt eine andere Mutter und hält den leblosen Körper ihres Babys auf den Knien. Sie weint vor Schmerz, ihre Augen flehen, ihr Körper schwankt, während sie schreit – jede Bewegung erschüttert den winzigen Leichnam. Der Kopf des Babys fällt wie der einer Puppe nach unten. Vielleicht versucht sie, es wieder zum Leben zu erwecken, aber es ist vergeblich. (…) Die Luft ist erfüllt von unerbittlichen, markerschütternden Schreien – Frauen und Kinder schreien in einem eindringlichen Chor aus Schmerz und Schrecken.»

Eine Untersuchung mehr

Die IDF ihrerseits liess verlauten, der Angriff habe einem Kämpfer der Hamas gegolten, der in das Massaker der Islamischen Widerstandsorganisation am 7. Oktober 2023 involviert gewesen sei, identifizierte aber die Zielperson nicht. Sie sei sich der Berichte bewusst, wonach es im Gebiet eine gewisse Zahl verletzter Individuen gegeben habe. Und wie immer in solchen Fällen war das zynische Mantra der israelischen Armee zu vernehmen: «Der Vorfall wird untersucht.» 

Etwa wie jener, als die IDF am Sonntasgmorgen aufgrund eines "technischern Irrtums" bei einer Wassserverteilstelle im Zentrum Gazas mindestens zehn Menschen, unter ihnen erneut mehrere Kinder, tötete. Ziel der tödlichen Attacke war ein Kämpfer des Islamischen Jihad. Stunden später tötetet ein Luftangruff auf eine belebte Kreuzung in Gaza City mindestens elf Menschen und verletzte Dutzende - einer von laut IDF über 150 Luftangriffen innert 24 Stunden. Und auch hier: "Der Vorfall wird untersucht."

Etwa so wie jene Vorfälle, bei denen Offiziere der IDF Soldaten befohlen haben, auf unbewaffnete Menschen zu schiessen, die an vier Zentren auf Nahrungsmittelhilfe der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) warteten. Einer Uno-Sprecherin in Genf zufolge sind seit Beginn der Verteilaktion bis zum 7. Juli 798 Menschen getötet worden – eine Statistik, welche die GHF als «falsch und irreführend» zurückweist.

«Die IDF bedauert jeglichen Schaden an unbeteiligten Zivilisten und operiert, um Schäden so weit wie möglich zu minimieren», hiess es in einer Verlautbarung der «moralischsten Armee der Welt» (Benjamin Netanjahu) nach dem Angriff auf die Klinik in Deir al-Balah. Nähere Angaben, was für Munition beim Luftangriff verwendet wurde und welche Massnahmen getroffen worden waren, um Schäden an palästinensischen Zivilisten zu minimieren, gab es keine. Auch keine Erklärung dafür, wieso die Zielperson attackiert wurde, obwohl eine Gruppe von Frauen und Kindern in der Nähe war.

Zu tödliche Munition

Waffenexperten kommen nach der Analyse von Überwachungsvideos und von Interviews mit Menschen vor Ort zum Schluss, dass die israelische Armee in Deir al-Balah Munition eingesetzt hat, die gezielt grösseren Schaden verursacht. «Sie benutzen Munition mit hoher Fragmentierung, die am besten Truppenelemente in Zugsgrösse auf freiem Feld töten kann und nicht ideal ist, um jemanden auf offener Strasse, auf der sich Zivilisten inklusive Frauen und Kinder befinden, ins Visier zu nehmen», folgert Wes Bryant, früherer Zielgruppen-Experte der US Special Forces und Chef der Einschätzung von Kollateralschäden im Pentagon. 

Was in Gaza geschieht, sagt Omer Bartov, ein israelisch-amerikanischer Historiker und einer der renommiertesten Forscher zum Thema Völkermord, sei im 21. Jahrhundert einmalig: «Ich kenne keine vergleichbare Situation. Jüngsten Schätzungen zufolge sind etwa 70 Prozent der Gebäude in Gaza entweder vollständig zerstört oder schwer beschädigt. Die Behauptung, dass die IDF einen Krieg in Gaza führt, ist einfach zynisch, denn es gibt keinen Krieg in Gaza. Was die IDF in Gaza tut, ist die Zerstörung des Küstenstreifens. Jede Woche werden Hunderte von Gebäuden abgerissen. Das ist kein Geheimnis, aber die Berichterstattung in den Mainstream-Medien ist unzureichend.» 

Bulldozer-Fahrer gesucht

Nach wie vor verwehrt Israel ausländischen Medien den freien Zugang nach Gaza. Währenddessen hat die IDF im Gebiet mehr als 180 palästinensische Journalistinnen und Journalisten getötet, der NGO «Committee to Protect Journalists» (CPJ) zufolge mindestens 19 unter ihnen «gezielt», was die Organisation als «Morde» einstuft. Bisher hat die israelische Regierung alle privaten oder öffentlichen Bemühungen um Zugang seitens von Diplomaten oder prominenten Medienschaffenden ignoriert.

Dass Gaza inzwischen systematisch zerstört wird, ist kein Geheimnis mehr. So sucht die israelische Armee über Internet-Plattformen wie Facebook Fahrer von Bulldozern, um ihr bei der Zerstörung Gazas zu helfen. Solche Anzeigen versprechen bis zu 3’000 Schekel (720 Franken) für einen Tag Arbeit. Laut einem Artikel in «Haaretz» von vergangener Woche erhält ein Bulldozer-Fahrer für die Zerstörung eines kleinen Gebäudes 2’500 Schekel (600 Franken), für ein grosses Gebäude 5’000 Schekel (1’200 Franken). 

Mittel des Genozids

«Die Vorstellung, dass Bulldozer zu einem wichtigen Mittel des Genozids und der Kriegsführung geworden sind, ist ziemlich neu», sagt Neve Gordon, Professor für Völkerrecht und Menschenrechte der Queen Mary University in London: «Was in Gaza geschieht, ist nicht die Zerstörung eines Hauses hier oder dort, sondern die Zerstörung ganzer Dörfer und Städte.» Diese Art der Zerstörung, sagt Gordon, sei illegal. 

Argumente, wonach Privathäuser möglicherweise Eingänge zu unterirdischen Tunnels sein könnten, seien nicht mehr nachvollziehbar, weil Israel ertappt worden sei, über bestimmte Dinge wiederholt gelogen zu haben: «Sie haben uns während Monaten gesagt, dass sich unter dem Al-Shifa Spital (Gazas grösstem Medizinkomplex) das Hautquartier der Hamas versteckt.» Ein solches sei aber nie gefunden worden. Es brauche, so der Völkerrechtler, unabhängige Untersuchungen, um Israels Angaben zu überprüfen.

«Massive Konzentrationslager»

Währenddessen hat Anfang letzter Woche Verteidigungsminister Israel Katz mitgeteilt, er habe die israelische Armee angewiesen, sich auf den Bau einer «humanitären Stadt» auf den Ruinen Rafahs, Gazas südlichster Stadt, vorzubereiten. Laut «Haaretz» sieht der Plan vor, dass die IDF Hunderttausende von Palästinenserinnen und Palästinensern vom Norden des Küstenstreifens in die neue Stadt zwingen würde, welche die Vertriebenen dann nicht mehr verlassen dürften. Der Minister deutete an, dass es Israels ultimatives Ziel sei, einen Grossteil der Bevölkerung zu bewegen, in andere Länder zu emigrieren, die sie aufnehmen würden.

«Israel bereitet sich vor, die ganze Bevölkerung Gazas unter Zwang zu vertreiben – durch eine Kombination von Evakuationsbefehlen und intensiver Bombardierung – in ein geschlossenes und möglicherweise eingezäuntes Gebiet», hatte bereits am 1. April der linke Journalist Meron Rapoport geschrieben. Ein solches Ziel, so der Israeli, käme der Schaffung eines «Konzentrationslager» gleich. 

Auch der Schweizer UNWRA-Chef Philippe Lazzarini hat in sozialen Medien bezüglich des Plans des israelischen Verteidigungsministers von «de-facto massiven Konzentrationslagern» gesprochen: «Das Vorhaben würde Palästinenserinnen und Palästinenser auch jeglicher Aussicht auf eine bessere Zukunft in ihrer Heimat berauben.»

«Moralisch unzumutbar»

Katz’ «humanitäre Stadt» würde «alle Bewohner der Enklave einsperren», kritisierte ein Leitartikel in «Haaretz» vergangene Woche, und «ist ein moralischer und historischer Tiefpunkt für den Staat Israel und das jüdische Volk. Egal, wie sehr man in Israel versucht, diesen Schritt mit beschönigenden Begriffen zu umschreiben, es handelt sich um ein Konzentrationslager.»

Pessimistisch zu Israel Katz’ Vorhaben äusserten sich in einer Analyse auch israelische Rechtswissenschaftler wie Eyal Benvenisti und Chaim Gans: «Wir halten diesen Plan für moralisch und rechtlich unzumutbar. Wir halten ihn für besonders beschämend angesichts der einzig möglichen Rechtfertigung für den Zionismus: Menschen, die wegen ihrer Nationalität verfolgt wurden, nachdem sie entwurzelt, konzentriert und aus ihren Ländern deportiert worden waren, eine Zuflucht zu bieten.»

Quellen: The New York Times, The Washington Post, The Guardian, Haaretz

Letzte Artikel

Musk demaskiert. Das Internet als Herrschaftsinstrument

Ali Sadrzadeh 5. Dezember 2025

Wie weiter mit dem Klimaschutz?

Jörg Hofstetter 5. Dezember 2025

Der Papst und der Patriarch von Istanbul in Nizäa – Nur der Kaiser fehlte

Erwin Koller 4. Dezember 2025

EU berechenbarer als USA

Martin Gollmer 4. Dezember 2025

Dröhnendes Schweigen um Venezuela

Erich Gysling 1. Dezember 2025

Spiegel der Gesellschaft im Wandel

Werner Seitz 1. Dezember 2025

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Zurück zur Startseite
Journal 21 Logo

Journal 21
Journalistischer Mehrwert

  • Kontakt
  • Datenschutz
  • Impressum
  • Newsletter
To top

© Journal21, 2021. Alle Rechte vorbehalten. Erstellt mit PRIMER - powered by Drupal.