Niemand kennt seinen Namen, und über seine Herkunft wird spekuliert. Der anonym gebliebene Künstler hinterliess bedeutende Werke. Benannt wird er nach seinem Passionszyklus in der reformierten Kirche von Waltensburg. Eine Spurensuche in Sogn Gieri.
An der Schulzimmerwand hing eine Karte des Bündnerlandes. Während mehrerer Wochen. Eingetragen waren rund zwanzig, vorwiegend sakrale kunsthistorische Kleinode – von Waltensburg bis Zillis, von Rhäzüns bis Churwalden, von Maienfeld bis zum Schamserberg. Unser Kunstgeschichtslehrer kannte sie alle, diese Kirchen und Kapellen mit den Kunstschätzen des «Waltensburger Meisters». Sie haben ihn fasziniert und berührt. Das spürten wir. Und wie er sie uns näherbrachte, diese Bilder und Fresken aus hochgotischer Zeit! Behutsam. Es waren Entdeckungsreisen in eine unbekannte Welt. Horizonterweiternd, darum einprägsam.
Auf den Spuren des Waltensburger Meisters
Ausgangspunkt dieser kunsthistorischen «Expeditionen» war die reformierte Kirche Waltensburg/Vuorz im Vorderrheintal. Hier, in dieser abgelegenen Gegend der Surselva, schuf der unbekannte Künstler um 1330 einen Passionszyklus – eine eindrucksvolle Figurendarstellung. In zwei übereinanderliegenden Reihen erzählt er die Leidensgeschichte Jesu. Die einzelnen Fresken gehen sachte ineinander über – vom Abendmahl über die Fusswaschung, den Judaskuss zur Gefangennahme und Dornenkrönung. Der Maler nimmt uns mit auf den Kreuzweg und lässt uns die Kreuzigung Christi nacherleben. (1)
Die Leidenschaft des Lehrers für diesen unbekannten Künstler und sein vielfältiges Œuvre übertrug sich auf uns Schüler. Das Interesse blieb ein Leben lang. Eine Fahrt ins Bündnerland bedeutet darum vielfach den Besuch eines Kunstjuwels des Waltensburger Meisters. In diesem Sommer war es wieder einmal das alte, einsame Kirchlein St. Georg bei Rhäzuns am Eingang zum Domleschg.
Ein vollständig ausgemalter mittelalterliche Kirchenraum
Der Spaziergang vom Bahnhof RhB Rhäzüns über das freie Feld hin zum bewaldeten Hügel über dem Hinterrhein und der lauschige Weg hinauf zum Kirchlein haben etwas Meditatives. Wer die überdachte Kirchentreppe emporsteigt und durch die Eingangspforte in dieses über tausend Jahre alte Gotteshaus tritt, ist überwältigt: Er trifft auf einen vollständig ausgemalten, mittelalterlichen Kirchenraum, wie er nördlich der Alpen ganz selten ist. Welche Bilderflut in Chor und Stift! Welch reicher Bestand an Wandmalereien in dieser Saalkirche! Still stand ich da und staunte! Einmal mehr.
Die archaischen Kniebänke aus einfachen Balken ohne Lehnen verstärken den Eindruck. Dazu jahrhundertealtes Gemäuer, Bilder in kräftiger Farbe, Freskomalereien des Waltensburger Meisters zur Georgslegende und zu heilsgeschichtlichem Geschehen. Entstanden sind seine Gemälde gegen 1350, so die Forschung. Daneben finden sich wunderbare Wandmalereien des sogenannten Rhäzünser Meisters. Sie stammen aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Auch von diesem Künstler kennt man weder Namen noch Lebensdaten. Möglicherweise hat er nach dem Tod des Waltensburger Meisters das Gesamtkunstwerk von Sogn Gieri fortgesetzt. Genau weiss man es nicht. (2)
Sogn Gieri – ein Kirchenraum der Superlative
Zwei Bilder des Waltensburger Meisters haben mich besonders berührt. Da ist einerseits das optisch auffällige, riesige Wandgemälde mit dem Drachenkampf des heiligen Georg und anderseits die grossfigurige Schutzmantelmadonna an der Chorbogenwand: Unter ihrem weit ausgreifenden Mantel suchen Gläubige «Schirm und Schild». Jede Zeit hat ihre Nöte und Wirren – und die Sehnsucht nach Sicherheit.
Das Kirchlein ist Sankt Georg geweiht oder Sogn Gieri, wie er im lokalen rätoromanischen Idiom Sutsilvan genannt wird. Der Legende nach soll sich der Heilige im 4. Jahrhundert auf der Flucht mit einem riesigen Sprung zu Pferd über die Rheinschlucht gerettet haben. Zum Dank für den himmlischen Beistand vor seinen Verfolgern habe er hier über dem Abgrund ein Kirchlein erbauen lassen. (3)
Sankt Georg als Identifikationsfigur
So erstaunt es nicht, dass ein gotisches Fresko an den berühmten Drachentöter Sogn Gieri erinnert. Das grossformatige Bild an der Nordwand der Kirche stammt vom Waltensburger Meister. Wie im Hochmittelalter üblich, erhält der heilige Georg die typischen Zeichen der Zeit: Rüstung, Pferd, Lanze. Als Soldat Christi – wir befinden uns in der Epoche der Kreuzzüge – wird er zur Identifikationsfigur von Rittern und Kriegern und ihrer Orden: Georgs Kampf gegen den Drachen als Sinnbild des Bösen und damit des Teufels.
Da erscheint uns ein ganz anderer Drachenkämpfer: nicht wie sonst mit dem Pferd über dem Drachen stehend, der sich im Todeskampf windet und den letzten Stich erhält. Der Waltensburger Meister schildet den Beginn des Kampfes. Als christlich gerüsteter Ritter führt der heilige Georg auf Schild und Pferdedecke das vielfach sichtbare Kreuzzeichen. Wie bei einem Turnier galoppiert er mit einer Stosslanze auf seinen Gegner zu: Es ist ein furchteinflössendes Mischwesen mit Schlangenleib, Krallenfüssen und Flügeln. Die Königstochter erhebt die Hände zum Gebet. (4) Stilisierte Bäume verstärken das Dargestellte.
Wer die imposante Komposition betrachtet, ist an Bilder in der Manessischen Liederhandschrift erinnert: das Gemälde als Repräsentation höfischer Kultur in der sakralen Kunst jenes Zeitabschnitts.
Eine stille Welt – daneben das Pulsierende der Modernität
Hier oben auf dem kleinen Hügel über der Rheinschlucht stehen und im stillen Kirchlein verweilen, das bedeutet eintauchten in eine eigene Welt, eine Welt, die nichts von ihrer geheimnisvollen Aura und ihrer inspirierenden Faszination verloren hat. Die Gedanken tragen einen fort – zu anderen Horizonten, in weit zurückliegende Zeiten.
Keine dreihundert Meter davon entfernt überquert der pulsierende Autobahnabschnitt der A13 zwischen Reichenau und Thusis den Hinterrhein. Auch sie trägt die Menschen fort. Auf eine ganz andere Art.
(1) Vgl. Simona Boscani Leoni: Die Wandmalereien des Waltensburger Meisters in Waltensburg. In: Horst F. Rupp (2015) (Hg.), Der Waltensburger Meister in seiner Zeit. Lindenberg i. Allgäu: Kunstverlag Josef Fink, S. 57ff.
(2) Rupp (2015), S. 124.
(3) Armon Fontana: Die Kirchen in Rhäzüns. Nossadunna – Sogn Paul – Sogn Gieri. Bern: Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, 2004, S. 26ff.
(4) Rupp (2015), S. 121.