Das Augustinermuseum in Freiburg/Breisgau zeigt, basierend auf Beständen der Sammlung «Peindre en Normandie» (Caen), über siebzig Werke von drei Dutzend Künstlern, darunter Jean-Baptiste Camille Corot, Gustave Courbet und Claude Monet.
1847 wurde die Bahnlinie Paris–Le Havre eröffnet. Die Seebäder Dieppe, Étretat, Honfleur, Trouville, Cabourg und weitere nahmen ihren Aufschwung. Für das Pariser Bürgertum rückten die Küsten der Normandie in erreichbare Nähe, und mit den Feriengästen kamen auch die Maler. Sie hatten gerade erst gelernt, Landschaften als Naturschönheiten einfach um ihrer selbst willen – ohne historische, mythische oder dramatische Beleuchtung – als bildwürdige Gegebenheiten aufzufassen. In der ab 1830 bestehenden «Schule von Barbizon» hatte sich in Abkehr von traditionellen ästhetischen Gepflogenheiten das Konzept der Paysage intime entwickelt, der vertrauten «gewöhnlichen» Landschaft – Sujets, welche die Künstler im Freien skizzierten und dann im Atelier ausführten.
Aus kunsthistorischer Sicht liegt in Barbizon einer der Ursprünge jener gewaltigen Innovation der 1870er-Jahre, die nun in der Normandie von Pionieren der Malerei weiter ausformuliert wurde. 1874 anlässlich einer Pariser Ausstellung wurde die neue Kunstrichtung mit der Etikette Impressionismus markiert, obschon es kaum möglich ist, diesen Stil trennscharf von anderen zeitgenössischen Richtungen zu unterscheiden. Jedenfalls aber haben die oft diesigen, nebligen Atmosphären an den Ufern des Ärmelkanals jene impressionistische Malweise sozusagen mit hervorgebracht, in der Gegenstände sich in Erscheinungen auflösen und das Licht zum Hauptdarsteller wird.
Die radikale Wendung im Bildverständnis weg vom dargestellten Objekt und hin zum wahrnehmenden Subjekt konnte wohl nur in der nun bevorzugten Plein-air-Malerei entstehen. Und diese wiederum profitierte von einer banal erscheinenden, tatsächlich aber revolutionären Erfindung. Der amerikanische Maler John Goffe Rand liess 1841 ein Verfahren patentieren, mit dem malfertige Farbe in Metalltuben gefüllt werden konnte. Das aufwendige Anmischen pulverförmiger Pigmente in Bindemitteln wäre im Freien unpraktikabel gewesen. Mit den neuen Farbtuben hingegen war das Malen draussen bei Wind und Wetter erstmals möglich.
Die mit neuen Sicht- und Malweisen experimentierenden Künstler ziehen mit mobilen Staffeleien sowie Sonnen- oder Regenschirmen an die Küsten und ins Hinterland der Normandie und tauschen sich bei geselligen Treffen über ihre Arbeit aus. Legendär ist der Malertreffpunkt in der Ferme Saint-Siméon in Honfleur, einem Bauernhof mit Herberge. Rund dreissig Maler zählen zu den regelmässigen Gästen von Maman Toutin. Eugène Boudin ist ab 1854 regelmässig dort. In einem kleinen Gemälde hält er ein Treffen von Jongkind, Van Marcke, Monet und sich selbst fest, die in Saint-Siméon unter Apfelbäumen an einem Tisch mit Blick aufs Meer sitzen. Auch Monet, Corot, Daubigny, Isabey, Troyon und Bazille verkehren hier. Beim Austausch über Skizzen und Maltechniken tasten sie sich gemeinsam voran zu dem, was später Impressionismus genannt wird.
Die Ausstellung im Augustinermuseum dokumentiert nicht nur Breite und Vielfalt des Impressionismus, sondern auch dessen Vorläufer – etwa Corots Paysages intimes oder Courbets realistische Studien der stürmisch bewegten See – sowie dessen Nachwirkungen, wie sie besonders in dem schönen Ölbild Edouard Vuillards «Der Garten in Amfreville» von 1905–1907 sichtbar werden, mit dem er sich als Angehöriger der vom Impressionismus geprägten Gruppe der Nabis zu erkennen gibt.
Nicht direkt impressionistisch, aber sichtlich in dessen Gravitationsfeld entstanden ist das fast schon altmeisterlich daherkommende «Stillleben mit silbernem Becher» von Guillaume Fouace. Stark reflektierende Oberflächen aus Gold, Silber oder Glas waren schon immer Prüfsteine der Stillleben-Maler. Doch mit seiner Inthronisierung des Objekts stünde ein solcher Ausweis malerischer Virtuosität eigentlich konträr zur impressionistischen Bildauffassung.
Indem Fouace den Becher neben eine Orange stellt, die er offensichtlich auflöst in ihre sich überlagernden Farberscheinungen, macht er nun aber darauf aufmerksam, dass auch der harte Glanz des Bechers aus vielfachen optischen Interaktionen komponiert und eben nicht als hartes Objekt aufgefasst ist. Das kleine Bild zeigt gegen den ersten Anschein durchaus enge Bezüge zum Impressionismus, indem es ihm nicht primär um die zwei Gegenstände, sondern um den Vorgang des Sehens geht.
Einen ähnlich komplizierten Bezug zum Thema Impressionismus weist Victor Stanislas Lépines Landschaftsbild «Dorf in der Nähe von Caen» auf. Lépine, aus Caen stammend, zuerst autodidaktisch malend, dann als Schüler Corots unter dem Einfluss der Schule von Barbizon, fühlte sich keinem Stil verpflichtet, nahm aber an der ersten Impressionistenausstellung 1874 beim Fotografen Nadar in Paris teil. Sein kleinformatiges «Dorf in der Nähe von Caen» zeigt die für ihn typische Reduktion der Formen und seine schnelle Malweise. Geradezu aufregend ist seine erdige Palette mit feinsten Braun-Grau-Valeurs, einer Spur Moosgrün sowie den Himmelstönen in Schwefel und Blaugrau, wobei letzteres sich auch auf dem Kirchendach zart andeutet. Eine solche Formen- und Farbensprache gibt es erst wieder zwei Generationen später bei Giorgio Morandi.
Lépine entspricht dem Künstler-Klischee: der Zeit voraus, verkannt, verarmt. Der Erfolg in der Öffentlichkeit blieb ihm verwehrt, auch wenn einzelne Malerkollegen sein Genie erkannten. Zeitweise förderte ihn der Sammler Hazard. Der Graf Armand Doria ermöglichte ihm, im Château d’Orrouy zu leben und zu arbeiten. Als er 1892 in Paris starb, mussten seine Freunde eine Sammlung durchführen, um die Begräbniskosten begleichen zu können.
Zu Unrecht wird dieses Künstlerschicksal weithin als typisch für die aus dem seinerzeitigen Mainstream ausbrechenden Impressionisten angesehen. Zumindest für die als grosse Exponenten jenes Stils anerkannten Maler – Claude Monet, Édouard Manet, Auguste Renoir, Edgar Degas und andere – trifft das Klischee keineswegs zu. Sie hatten Erfolg und wurden auch reich. Das gebildete fortschrittliche Bürgertum wandte sich vielfach vom traditionellen Kunstkanon ab, es anerkannte und kaufte die modernen Werke. Impressionistische Ausstellungen waren grosse Publikumserfolge.
Das hat sich nach 150 Jahren kaum geändert. Impressionistische Kunst ist zwar nicht mehr modern und schon gar nicht rebellisch wie zur Zeit ihrer Entstehung. Aber sie hat sich ihre Frische bewahrt und spricht die Betrachter unmittelbar an. Nicht wenige der Werke im Augustinermuseum verursachen Herzklopfen.
Augustinermuseum Freiburg/Breisgau: Licht und Landschaft – Impressionisten in der Normandie
bis 30. November