Zwei Kunstschaffende aus Brasilien stehen mit den Zürcher Konkreten und besonders Max Bill in Verbindung. Sie sind zurzeit im Haus Konstruktiv und im Kunsthaus Zürich zu erleben. Herausragend der Träger des Zurich Art Prize 2025, Artur Lescher.
Schon in den 1930er Jahren gab es in der brasilianischen Kunst eine Strömung, die sich, von russischen und niederländischen Konstruktivisten inspiriert, mit geometrisch-konkreten Formen auseinandersetzte. Dieser Aufbruch ins Experimentelle reflektierte den starken Schub der Industrialisierung und Urbanisierung des Landes, fand aber vorerst in der Kunst keine weitere Resonanz.
Brasilianische Avantgarden
Erst mit dem Ende des autoritären Regimes von Diktator Getúlio Vargas um 1945 öffneten sich Kultur und Gesellschaft für eine grundlegende Modernisierung, in der auch Avantgarden ihren Platz fanden. Kunst und Architektur Brasiliens gaben dieser neuen Zeit Form und Ausdruck, sowohl in Fortführung der modernistischen Ansätze der Dreissigerjahre wie auch im regen Austausch mit Entwicklungen in Europa.
Der zu den Zürcher Konkreten gerechnete Max Bill (1908–1994) hat sich 1951 mit seiner Einzelausstellung im Museu de Arte de São Paulo und der Teilnahme an der 1. Biennale von São Paulo in die brasilianische Kunstszene eingeschrieben. Seine Einflüsse sind vielfältig und nicht zuletzt im Werk der zur Grande Dame der brasilianischen Avantgarde gewordenen Lygia Clark (1920–1988) offensichtlich. Wie Max Bill hat sich Lygia Clark in ihrem Frühwerk mit geometrischen und seriellen Kompositionen beschäftigt, und wie er ist sie eine eminente räumliche Gestalterin, die stark in skulpturalen und architektonischen Kategorien denkt und arbeitet.
Diesen Beziehungen geht das Museum Haus Konstruktiv mit der Schau «Neoconcretismo» nach, die Max Bill und Lygia Clark in benachbarten Räumen zeigt. Doch während das Kunsthaus Zürich gleichzeitig eine grosse, mit dem Haus Konstruktiv koordinierte Retrospektive zu Clark ausrichtet, ist die Brasilianerin in dem das Erbe der Zürcher Konkreten pflegenden Haus sozusagen das Begleitprogramm zum grossen Auftritt ihres Landsmanns Artur Lescher (*1962), des diesjährigen Gewinners des «Zurich Art Prize».
Reine Poesie
Lescher arbeitet im Geist des Neoconcretismo in eigenständiger und einzigartiger Form mit skulpturalen Installationen. Im Haus Konstruktiv bespielt er zwei grosse Säle mit je völlig unterschiedlichen und eigens für diesen Ort geschaffenen Raumkonzepten. Beides sind Arbeiten von einer Art, wie man sie einfach noch gar nie gesehen hat. Dies aber nicht, weil da eine wilde Kreativität ins Kraut geschossen wäre. Vielmehr steht man staunend vor Werken, die den Eindruck einer sehr langen Reifung erwecken. Sie haben eine luzide Form gefunden und die Ausführung gehorcht bis ins letzte Detail einer stupenden Präzision.
Im ersten Raum hängen zwanzig schlanke skulpturale Objekte aus unterschiedlichen Materialien. Bei zweien davon führt die Aufhängung von der Decke quer durch den Raum wieder hinunter bis auf Kniehöhe, wo die in die einzelnen Schnüre aufgefächerten Tragseile einmal in Kreis-, einmal in Quadratform in die Wand gehen. Es ist, als ob geometrische Gedanken ohne Umweg über eine mit Mühen verbundene handwerkliche Herstellung direkt materialisiert wären. Doch der Effekt ist nicht eine «Kälte des Gedankens», sondern reine Poesie. Die teils nur fingerbreit über dem Boden schwebenden Artefakte haben eine Aura der Kostbarkeit. Indem sie das Pendel-Motiv zu irgendwie bereits bekannt erscheinenden Gestalten variieren, sind es nicht nur Unikate, sondern beinahe schon Individuen.
Für den zweiten Saal hat Artur Lescher eine ganz andere Installation entwickelt. Parallellaufende rote Schnüre sind diskret als filigranes Band über Wände, Decke und Boden gespannt und messen die Dimensionen des Raums aus, der im Übrigen bis auf eine kubische weisse Sitzbank völlig leer bleibt. Mit der Perfektion der Ausführung verleiht Lescher auch diesem minimalistischen Konzept eine Nachdrücklichkeit, der man sich nicht entziehen kann und auch nicht will. Der Raum bekommt, da er in Länge, Breite und Höhe markiert und umfangen ist, eine physische Erlebbarkeit. Der eigene Körper tritt in Relation zu den Dimensionen des Saals, wird Bestandteil des Werks.
Berühren erwünscht
Die fast zwei Generationen ältere Lygia Clark – Lescher hat sie selbstverständlich gekannt und stand auch im Austausch mit ihr – hat in ihrem späteren Werk nicht nur den Einbezug der Betrachtenden, sondern vor allem deren Aktivierung in den Fokus gerückt. In den Sechzigerjahren begann sie mit der Serie der «Bichos» (Tiere), die eigentlich nichts Tierisches an sich haben, aber immerhin beweglich sind: metallene Kleinskulpturen, deren plane Flächen durch Scharniere verbunden und dadurch fast unendlich veränderbar sind. Diese Bichos soll man nicht bloss anschauen, sondern in die Hand nehmen, mit ihnen spielen. Das Kunsthaus stellt etwa zwei Dutzend Replikate solcher Bichos aus, bei denen es für einmal nicht «berühren verboten» heisst.
Doch die spielerischen Formen des Einbezugs der «Nutzer» scheinen Lygia Clark irgendwann nicht mehr genügt zu haben. Sie wollte die Grenzen der Kunst aufbrechen, den Werkbegriff hinter sich lassen und an dessen Platz die Vorstellung offener Prozesse setzen. Zeitlebens Avantgardistin, bewegte sie sich zunehmend in Richtung von Psychotechniken und Psychotherapie. «Strukturierung des Selbst» wurde zu ihrem Leitbegriff. Sie zog sich aus der Kunstwelt zurück und veranstaltete mit Gruppen und Einzelpersonen Selbstfindungsprozesse, die sie mit kreativen Verfahren stimulierte. Man könnte vielleicht sagen, sie habe sich von der Künstlerin zur Kunsttherapeutin gewandelt; allerdings war sie offenbar der Überzeugung, gerade so eine neue Form entgrenzter Kunst zu entwickeln.
Keine Kunst ohne Form und Öffentlichkeit
Zumindest unter dem Gesichtspunkt einer Auffassung, die unter Kunst eine bestimmbare kulturelle Praxis verstehen will, ist der Begriff «entgrenzte Kunst» ein Widerspruch in sich. Was entgrenzt ist, kann nicht etwas Bestimmtes sein. Im Falle der Kunst ist es seit jeher die Form, die sie unterscheidbar macht. Ob Roman, Gedicht, Lied, Sinfonie, Zeichnung, Skulptur – künstlerische Hervorbringungen reihen sich in Formen lebendiger kultureller Überlieferungen ein, ringen mit ihnen, entwickeln sie weiter – aber sie bewegen sich weder auf unkartiertem Terrain noch in Revieren ohne Grenzen.
Vieles an Lygia Clarks Spätwerk hinterlässt einen Eindruck von Beliebigkeit. Wenn sie dem Publikum skurrile Kostüme und Requisiten zum Zweck neuer Körpererfahrungen anbietet oder allerhand Wahrnehmungsübungen arrangiert, so wähnt man sich tatsächlich auf entgrenztem, weil unbestimmbarem Territorium.
Kunst zeichnet sich nicht nur durch eine bestimmte Formung, sondern auch durch ihren öffentlichen Charakter aus (selbst das in der Schublade oder im Atelier vergessene Werk richtet sich an eine potentielle Öffentlichkeit). Therapeutische Settings sind demgegenüber gerade nicht öffentlich, sondern bedürfen des Schutzes der Diskretion. Öffentlich kann höchstens eine Theorie des Therapeutischen sein. Falls es so etwas wie ein therapeutisches Werk geben sollte, kann es sich um alles Mögliche handeln – ausser um Kunst.
Dies zu konstatieren, spricht nicht gegen die Person oder die Arbeit von Lygia Clark. Sie hat sich von der Kunst wegbewegt; daran ist nichts Falsches. Es spricht auch nichts dagegen, dass ein Kunstmuseum diesen biographischen Vorgang darstellt. Aber es wäre besser, den Sachverhalt auch klar zu benennen, als mit kuratorischen Verrenkungen sämtliche Hervorbringungen der zweifellos wichtigen und interessanten Exponentin im Kunstkosmos verorten zu wollen.
Museum Haus Konstruktiv, bis 11. Januar 2026:
- Artur Lescher, Entangled Fields, Zurich Art Prize 2025; kuratiert von Sabine Schaschl
- Konkrete Kunst – Neoconcretismo. Wirken und Wirkung der Zürcher Konkreten in Brasilien; kuratiert von Evelyne Bucher
Kunsthaus Zürich, bis 8. März 2026:
Lygia Clark. Retrospektive; kuratiert von Cathérine Hug; Katalog