Der russische Aussenminister Lawrow hat dieser Tage in einem Interview mit einem ungarischen Nachrichten-Kanal eine besonders schamlose Lüge des Putin-Regimes neu aufgetischt. Er behauptete, der Angriffskrieg gegen die Ukraine stelle keinen Bruch des Budapester Memorandums von 1994 dar, in dem Moskau die offiziellen Grenzen und die territoriale Integrität des Nachbarlandes garantiert hatte. Zudem lancierte er die durchsichtige Idee eines west-östlichen Nichtangriffspaktes, ohne ein Wort über den Ukraine-Krieg zu verlieren.
Sergei Lawrow ist zwar seit 21 Jahren russischer Aussenminister, aber er ist kein politisches Schwergewicht. Jedermann weiss, dass er nur als dienstfertiger Nachbeter und diplomatischer Handlanger seines Herrn im Kreml agiert. In dieser Funktion schreiben ihm Kremlogen einen ähnlich eingeschränkten Stellenwert zu wie seinem noch amtsälteren sowjetischen Vorgänger Gromyko während der Breschnew-Ära. Gromyko war allerdings zu seiner Zeit noch Mitglied des kommunistischen Politbüros, eines mächtigen und zumindest halbwegs kollektiven Gremiums, von dessen Zustimmung auch nominelle Partei- und Staatschefs wie Chruschtschow oder Breschnew abhängig waren. Von solchen internen Abhängigkeiten ist im heutigen Putinschen Machtsystem nichts zu erkennen.
His Master’s Voice
Putin regiert in absolutistischer Manier und hält, ähnlich wie einst der Diktator Stalin, alle entscheidenden Machtfäden exklusiv in seiner Hand. Die engeren Mitarbeiter um ihn herum erwecken alle den Eindruck von mehr oder weniger profillosen Apparatschiks, das heisst bürokratischen Willensvollstreckern ohne eigene Machtbasis. Anders als zu Sowjetzeiten, als in der Öffentlichkeit dauernd Spekulationen über mögliche Nachfolger des obersten Kremlherrn zirkulierten, ist heute von ähnlichen Kaffeesatzlesereien praktisch nichts zu vernehmen. Aber selbst wenn Kremlogen untereinander den einen oder andern Namen als möglichen Putin-Erben ins Spiel bringen sollten, so würde mit hoher Wahrscheinlichkeit kaum einer auf den farblosen 75-jährigen Lawrow tippen.
Dennoch ist es nicht ganz abwegig, gelegentlich auch Lawrows politische Verlautbarungen näher unter die Lupe zu nehmen, denn als getreues Sprachrohr von His Master’s Voice werden seine Aussagen in der Substanz immer deckungsgleich mit dem Willen des obersten Machthabers bleiben. In der vergangenen Woche hat Lawrow in einem Interview mit einer ungarischen Nachrichtenplattform auf YouTube die Behauptung vertreten, der laufende Angriffskrieg bedeute keinen Bruch des Budapester Memorandum vom Dezember 1994. In diesem Memorandum hatten die Atommächte Russland, USA und Grossbritanniengegenüber der Ukraine schriftlich versichert, dass sie deren territoriale Souveränität und die bestehenden Grenzen respektieren. Weiter bestätigten diese Atommächte, dass sie «keine Drohungen oder Gewaltanwendungen» gegen dieses Land anwenden werden.
Krasse Verdrehung früherer Sicherheitsversprechen
Diese Versicherungen wurden als Gegenleistungen für die damalige Bereitschaft der Ukraine abgegeben, ihre aus Sowjetzeiten auf ihrem Territorium stationierten Nuklearwaffen zur Vernichtung an Russland zu übergeben. Gleichlautende Memoranden sind gleichzeitig auch zuhanden der unabhängig gewordenen früheren Sowjetrepubliken Belarus und Kasachstan, auf denen ebenfalls sowjetische Kernwaffen stationiert waren, abgegeben worden.
Lawrow verdreht nun den Text des Budapester Memorandums zur platten Lüge, wenn er sagt, in diesem Text sei einzig und allein davon die Rede, dass die vier Nuklearmächte die Ukraine nie mit Nuklearwaffen angreifen würden. Das entspricht erstens nicht dem jederzeit einsehbaren Wortlaut des Memorandums (https://docs.un.org/en/cd/1285). Zweitens lässt der russische Aussenminister die in dem Memorandum festgehaltene Respektierung der ukrainischen Souveränität und ihrer bestehenden Grenzen rundweg unter den Tisch fallen – Verpflichtungen, die Russland übrigens schon bei der Annexion der Krim 2014 und bei der darauffolgenden militärischen Intervention im ostukrainischen Donbass eklatant verletzt hatte.
Das alles ist ja nicht neu. Aber man tut gut daran, diese hartgesottene russische Lügenpraxis in Bezug auf den Ukrainekrieg im Gedächtnis zu behalten, wenn man sich mit einem aktuellen Vorschlag auseinandersetzt, den Aussenminister Lawrow ebenfalls in der vergangenen Woche an einer sogenannten «Internationalen eurasischen Sicherheitskonferenz» in der belarussischen Hauptstadt Minsk lanciert hat. Lawrow erklärte, Russland sei bereit in Form von Garantien zwischen seinem Land einerseits und den jetzigen EU- und Nato-Mitgliedern andererseits eine Art gegenseitigen Nichtangriffspakt zu vereinbaren.
Friedensgarantien ohne Ukraine
Nähere Details zu diesem scheinbar friedfertigen Angebot von Putins Aussenminister sind bisher nicht verbreitet worden. Aber es springt ins Auge, dass die Ukraine und der in diesem Land von Russland seit bald vier Jahren gnadenlos geführte Angriffskrieg mit keiner Silbe erwähnt wird. Glaubt Lawrow im Ernst daran, dass man im Westen bereit sein könnte, sich mit Russland auf Verhandlungen über gegenseitige Nichtangriffsgarantien einzulassen, während das Putin-Regime seinen mörderischen Eroberungskrieg gegen das ukrainische Nachbarland seelenruhig weiterführt?
Putin ist, wie inzwischen selbst US-Präsident Trump begriffen hat, nicht gewillt, konkrete Gespräche über einen zumindest temporären Waffenstillstand mit der Ukraine zu beginnen. Ganz abgesehen von der naheliegenden Frage, wie viel Glaubwürdigkeit man den von Lawrow vorgeschlagenen Nichtangriffs-Garantien schenken könnte, wenn Moskau die vor dreissig Jahren im Budapester Memorandum klipp und klar formulierten Nichtangriffsversprechungen gegenüber der Ukraine schon seit der Krim-Annexion und der militärischen Einmischung im Donbass mit Füssen tritt.
Natürlich glaubt auch der mit allen Wassern gewaschene Zyniker Lawrow nicht daran, dass seine Nichtangriffspakt-Idee mit der EU und der Nato Anstoss zu seriösen Verhandlungen geben wird, solange der Kreml nicht gleichzeitig klarstellt, dass auch die Ukraine und die Perspektive einer akzeptablen Friedenslösung für dieses Land einbezogen wird. Dass er diesen zentralen Punkt von seinem Vorschlag konsequent ausklammert, kann nur bedeuten, dass es ihm mit diesem rhetorischen Ausflug gar nicht um eine wirkliche politische Initiative geht, sondern allein um ein routinemässiges propagandistisches Manöver.
Dieses soll Russland vom wenig attraktiven Image des aggressiven Kriegstreibers gegen die früher als «Bruderland» bezeichnete Ukraine entlasten und den Putin-Weisswäschern in aller Welt neue «Beweise» für den Friedenswillen ihres Kultidols in die Hände zu spielen. Doch weil dieses Kalkül offenkundig allzu durchsichtig gestrickt ist, hat Lawrows Nichtangriffspakt-Vorschlag denn auch auf der weiten globalen Bühne kaum irgendwo nennenswerte Wellen geschlagen. Würde es Moskau halbwegs ernst meinen mit dieser Idee, dann wäre sie sicher nicht von Putins bürokratischem Erfüllungsgehilfen Lawrow auf einer politisch unbedeutenden Nebenbühne in Minsk lanciert worden, sondern vom Kriegsherrn im Kreml persönlich und mit Kulissen einer wesentlich raffinierter orchestrierten Inszenierung.