Die 1929 geborene japanische Künstlerin Yayoi Kusama, Malerin Plastikerin, Schriftstellerin, Performerin, Modedesignerin ist mit ihrer bunten, farbenfrohen und sinnesfreudigen Kunst zu Gast in der Fondation Beyeler. Es gibt praktisch nichts, was die Künstlerin nicht gemacht hätte.
«Das Bildermalen schien das Einzige zu sein, womit ich in dieser Welt überleben konnte.» Das schrieb die 1929 geborene japanische Künstlerin Yayoi Kusama im Jahr 1975. Als Künstlerin malte sie nicht nur Bilder. Sie war auch Plastikerin, trat in provokativen Performances an die Öffentlichkeit, schuf Installationen, entwarf Kleider, zeichnete, betätigte sich als Grafikerin, als Autorin von Romanen und Gedichten. Ihr Werk reicht von informellen Malereien über (beinahe) Monochromes, Happenings, Body-Painting, All-over-Painting, Environments bis zu begehbaren Spiegelkabinetten, in denen man in ihre Malerei eintauchen kann. Es gibt praktisch nichts in der bunten Welt der Kunst, das sie nicht praktiziert hätte und noch praktiziert. Sie steht zur Kunst als Provokation wie als Heilmittel, Unterhaltung, als Fest der Sinne, Farben und verschlungenen Formen, zur Kunst als Theatralik und der – mitunter schrillen – Selbstinszenierung. Yayoi Kusama stammt aus Japan, schloss in den USA mit Künstlern wie Joseph Cornell, Donald Judd, Andy Warhol und Georgia O‘Keefe Bekanntschaft und Freundschaft. Sie gehörte und gehört zur «Weltkunst». Der Markt bedient sich ihrer Wirkung. In der Schweiz war ihr bisher kaum zu begegnen. Nun richtet ihr die Fondation Beyeler in Riehen eine grosse Retrospektive aus. Sie umfasst 70 Jahre der Kunstpraxis Kusamas.
Kunst als Heilmittel?
Zwei Dinge machen die Ausstellung zur Sensation. Dass eine Künstlerin mit 96 Jahren eine solches Feuerwerk zündet – wie in der Fondation Beyeler in Riehen – ist das eine. Dass andere: Seit vielen Jahrzehnten lebt und arbeitet sie in Japan in einer psychiatrischen Klinik. Sie musste sich schon in ihrer Jugend einer psychiatrischen Behandlung unterziehen. Sie litt und leidet unter Halluzinationen. Sie macht daraus, wie auch aus ihrem hohen Alter, kein Aufhebens. Wir als Betrachterinnen und Betrachter sollen daraus auch kein Aufhebens machen und Yayoi Kusama so nehmen, wie sie ist: Als begnadete (oder als eine mit allzu grossem Ego ausgestattete?) Selbstdarstellerin. Ob «das Bildermalen das Einzige zu sein schien, womit sie in dieser Welt überleben konnte»? Ob Kunst zu heilen vermag? Ob sie Lebenshilfe ist? Am ehesten für die Künstlerinnen und Künstler selber –, aber darüber hinaus auch für andere Menschen und gar die Welt? Lassen wir die Spekulationen über das komplexe Thema und nehmen wir es einfach als Tatsache: Yayoi Kusama findet ihre Identität und damit ihren Lebenssinn nur mit einer Kunst, so wie sie sie erfolgreich ausübt. Das entspricht ihren eigenen Aussagen.
Darüber hinaus mag sie die Besucher-Statistiken der Museen aufpolieren (die Institutionen werden es ihr danken). Und sie mag ein weltweit grosses Publikum mit ihren bunten Malereien, mit ihren Auftritten, ihrem oft skurrilen Modedesign unterhalten, zerstreuen, vielleicht auch erfreuen – einmal abgesehen von jenen Provokationen, die mit den in der New Yorker Öffentlichkeit inszenierten Nackt-Happenings und -Performances Kusamas mit schönen jungen Männern und Frauen und mit ihren sexuellen Tabubrüchen verbunden waren. Doch auch diese Seite ihrer Arbeiten aus den 60er und 70er Jahren beschert den Museen sichere Quoten. Die farbigen «Nippes», Karten, Bücher und Poster im Museumsshop zeigen jedenfalls, dass die Verantwortlichen der Fondation Beyeler wissen um das Potential ihrer «Star»-Künstlerin als Förderin des Verkaufs von «Kunst» an Besucherinnen und Besucher, die sich die echte Kunst Kusamas niemals leisten können.
Brandaktuelle Avantgarde
Yayoi Kusama ist – das macht die Ausstellung in der Fondation Beyeler deutlich – keine Mitläuferin. Sie springt nicht auf Mainstreams auf. Die Werke der in ihren Selbstinszenierungen oft provokativ auftretenden Künstlerin waren zur Zeit ihrer Entstehung brandaktuelle Avantgarde und oft ihrer Zeit voraus. Ihre Soft-Sculptures – mit phallischen Formen belegte Alltagsgegenstände – entstanden vor jenen von Claes Oldenburg oder von Eva Hesse. Aktuelle politische Happenings veranstaltete sie bereits 1968 als Begleitung des Wahlkampfs Nixon-Humphrey: Da liess sie Performerinnen nackt und mit Masken der Präsidentschaftskandidaten auftreten – eine Aufforderung an die Politiker, die «nackte Wahrheit» zu bekennen. Sie spielte bereits 1968 öffentlich eine Heirat zwischen zwei homosexuellen Männern durch. In den frühen 1960er Jahren sah sie sich mit der Hippie-Bewegung und ihren Postulaten verbunden. («Die von ihnen geforderte Wiederherstellung der Menschlichkeit besass Gemeinsamkeiten mit den Themen meiner Kunst, mit denen ich die Betrachter zu schockieren suchte», schrieb Kusama in ihrer Autobiographie.) Parallel dazu widmet sie sich einem Modedesign mit absurd-theatralischen Zügen. Aufs Ganze gesehen: Sie verbindet ihre Kunst und ihr eigenes Leben zu einer Einheit und gerät damit frühzeitig in die Nähe zur Fluxus-Bewegung als dem nach dem Dadaismus zweiten fundamentalen und folgenreichen Angriff auf ein traditionelles bürgerliches Kunstverständnis – allerdings mit wichtigen Unterschieden: Für Kusama sind zum Beispiel Natur und Naturbegegnungen wesentliche Inspirationsquellen. Belege dafür sind zauberhafte Zeichnungen von Pflanzen der erst Zwanzigjährigen und ebenso die kleinformatigen Malereien mit floralen Motiven der frühen 1950er Jahre.
Die Ausstellung in der Fondation Beyeler zeigt auch diese ganze frühen, vor oder kurz nach der Abreise Kusamas nach New York entstandenen Werke der Künstlerin. Sie erweitert damit das weitgehend vorherrschende Bild der Kunst Kusamas um eine die anderen Präsentationen des Werkes ergänzende Komponente. Vielleicht sind diese Beispiele früher Kreativität der erst gut Zwanzigjährigen, die an frühes Informel der amerikanischen Malerei erinnern, die eigentliche Überraschung der aktuellen Ausstellung der Künstlerin, die sonst ihr Publikum rund um die Welt mit den labyrinthischen und begehbaren verspiegelten «Infinity-Rooms», den riesigen «All-over-Paintings», mit den «Net Paintings» – monochromen Netz-Darstellungen, in die man förmlich eintauchen kann – oder mit den monumentalen grell-gelben Kürbis-Skulpturen begeistert und für sich einnimmt.
Es lohnt sich denn auch, in den ersten der insgesamt neun Räumen der Ausstellung vor diesen frühen Kleinformaten zu verweilen: Sie sind teilweise lesbar als zweidimensionale Visionen der später entwickelten Environments und bezeugen Sensibilität und malerisches Können der jungen Malerin.
In zwei der begehbaren «Infinity»-Rooms – einem im Untergeschoss, einem im Freien draussen vor der Fondation – kann man allerdings eintauchen. Die Besucherinnen und Besucher begegnen in den Spiegeln ihrem eigenen Bild und werden unvermittelt zum Teil der Kunst Kusamas.
Fondation Beyeler Riehen. Bis 25. Januar. Katalog 56 Franken. In Zusammenarbeit mit dem Museum Ludwig Köln und dem Stedelijk Museum Amsterdam.
Alle Werke von Yayoi Kusama: ©Kusama.
Yayoi Kusama wurde 1929 in Japan geboren. Ihre Jugend im Elternhaus war von Strenge geprägt. Ihre Mutter wünschte, dass ihre Tochter traditionell aufwächst. Ständiger Druck, Ablehnung und Entfremdung von ihrer Mutter könnten zu Kusamas schon in der Kindheit beginnenden Krankheit geführt haben, die sich in Halluzinationen zeigte. Kusama besuchte eine Kunsthandwerk-Schule in Kyoto und hatte 1952 die erste Einzelausstellung. Als 1955 ihre Werke auf der «18th Biennal at the Brooklyn Museum» ausgestellt werden sollten, beschloss sie, nach New York zu ziehen. Zur gleichen Zeit begann sie mit einer psychiatrischen Behandlung. Sie schämte sich nie wegen ihrer Krankheit und ging offen damit um. Sie lebte ab 1957 in New York. Hier pflegte sie freundschaftliche Kontakte mit den Künstlern Donald Judd und Joseph Cornell und mit Vertretern des Pop wie mit Warhol und den Beatles. Kusama fühlte sich in New York aber nicht wohl, und ihre Krankheit verschlechterte sich. 1961 war sie erneut in psychiatrischer Behandlung. 1966 erlangte Kusama mit dem Happening «Narcissus Garden» internationale Bekanntheit. Nachdem ihre Arbeiten nicht für die Biennale in Venedig ausgewählt wurden, beschloss sie, ihre Installation, 1500 spiegelnde Kugeln, vor der Ausstellungshalle aufzubauen. Ein Schild mit der Aufschrift «Your Narcissism For Sale» verwies auf den Narzissmus, der Kunsterwerb und Besitz innewohnt.
Kurz darauf begann Kusama mit Bodypainting Events, in denen sie – teils in der Öffentlichkeit – nackte Personen mit Punkten bemalte. Ebenso wie in ihren Halluzinationen sollen die Punkte Grenzen aufheben – Grenzen zwischen ihrer Kunst, den Menschen und ihrer Umgebung und Grenzen der Menschen untereinander. Das «Self Obliteration Event», das 1967 an der Brooklyn Bridge stattfand, zählt zu ihren bekanntesten. In den Fotosessions, Happenings und Events sind Elemente erkennbar, die als Vorläufer der Kunstrichtung Performance gesehen werden können. Ende der 1960er Jahre übernahm Kusama Ideen der Hippiebewegung: Anarchismus, Pazifismus und freie Liebe. 1977 ging sie freiwillig in eine psychiatrische Klinik, in der sie bis heute als eine der bekanntesten Künstlerinnen Japans lebt und arbeitet. 1993 wurden ihre Arbeiten auf der 44. Biennale in Venedig gezeigt.
Wichtige Ausstellungen in den letzten Jahren: Centre Georges Pompidou Paris (1911) Gropius-Bau, Berlin (2012), Whitnay Museum of American Art New York (1912), Moskau (1915), Hirschhorn Museum Washington (2017), Tate Moderne London (2021), Sammlung Goetz München (2024).