Bereits verschwindet das grosse Beben aus den Top-Schlagzeilen. Dabei wird erst jetzt deutlich, was sich ereignet hat. Ein türkischer Experte spricht von der grössten Katastrophe seit 500 Jahren und hält seine Schätzung von bis zu 100’000 Toten für eher konservativ.
Seit dem gewaltigen Erdbeben, das den Südosten der Türkei und den Norden Syriens grossflächig verwüstet hat, ist eine Woche vergangen. Am frühen Montagmorgen hatte das erste Beben der Stärke 7,8 um 3.17 Uhr die Region erschüttert, Stunden später folgte ein zweites schweres Beben der Stärke 7,6.
Die Zahl der bestätigten Toten liegt inzwischen bei mehr als 35’000, davon laut der Weltgesundheitsorganisation WHO 5900 in Syrien. Der Uno-Nothilfekoordinator Martin Griffiths rechnete am Sonntag sogar mit bis zu 50’000 Toten. Tausende werden noch vermisst. Die genaue Zahl der Todesopfer wird man vielleicht nie feststellen können. Neben den vielen Todesopfern hat die Katastrophe auch mindestens 85’000 Verletzte gefordert.
Övgün Ahmet Ercan, ein bekannter Geophysiker aus der Türkei, vermutet in dem Doppelbeben «die grösste Katastrophe seit 500 Jahren». Das Erdbeben habe sich unter äusserst fatalen Bedingungen ereignet, sagte er gegenüber dem «Spiegel».
«Zum einen hatte das erste Beben eine Magnitude von 7,8 und dauerte 47 Sekunden.» Zum anderen habe es Menschen frühmorgens und bei minus fünf Grad Aussentemperatur getroffen. «Sie waren also im Tiefschlaf, eingehüllt in Decken und nur mit Pyjamas bekleidet.»
Auf die Frage, wie hoch die Opferzahlen noch steigen könnten, gibt der Experte eine Schätzung: Es könnten mehr als 100'000 Tote sein. «Das betroffene Gebiet umfasst zehn Provinzen auf einer Strecke von 330 Kilometern. Dort leben mehr als 13 Millionen Menschen», so Ercan.
Bisher sei bekannt, dass durch die zwei Starkbeben etwa 7000 Gebäude eingestürzt sind. «Meinen Berechnungen zufolge wurden rund 200’000 Menschen verschüttet.» Bei seinen Berechnungen ziehe er nur die offiziellen Zahlen heran, so der türkische Geophysiker. «Am Ende könnte es sich sogar noch um eine konservative Schätzung gehandelt haben.»
Leider hätten die ersten Retter das Gebiet erst nach sechs Stunden erreicht. Somit verpassten sie laut Ercan die entscheidende Zeit.
Was die eingestürzten Häuser betrifft, sagte Ercan, so seien in den vergangenen Jahren auch minderwertige Gebäude als «erdbebensicher» verkauft wurden. «Solche Gebäude sehen oft modern aus, erdbebensicher waren sie aber nie.» Nach dem grossen Erdbeben von 1999 sei in der Türkei bei den Bauvorschriften zwar einiges verbessert worden. Doch am Ende gehe es um die Einhaltung der Vorschriften, meinte Ercan im Gespräch mit dem «Spiegel».
Noch immer gibt es vereinzelte Rettungen. So wurde eine 40-jährige Frau in Gaziantep nach 170 Stunden lebend aus den Trümmern geborgen. In der türkischen Provinz Hatay wurden ein Siebenjähriger und eine 62-Jährige an verschiedenen Orten nach je 163 Stunden gerettet.
Doch inzwischen ist die Phase, in der Verschüttete eine Überlebenschance haben, praktisch vorbei. Verschiedene Rettungsteams haben denn auch die Suche nach Lebenden eingestellt und damit begonnen, eingestürzte sowie unreparierbar beschädigte Gebäude zu zerlegen.
Im Katastrophengebiet herrschen Verzweiflung und Wut, die sich vielerorts auch in Attacken gegen die Rettungskräfte Luft verschafft hat. Verschiedene Einsatzequipen haben deswegen aus Sicherheitsgründen ihre Arbeit zeitweise einstellen müssen.
(J21)