Israels Angriff auf Führungsleute der Hamas in Katar macht die Zukunft Gazas und seiner Menschen ungewisser denn je. Gleichzeitig setzt das israelische Militär seine Operation zur Einnahme von Gaza-Stadt ungebremst fort. Derweil treten Offiziere und Piloten der IDF zunehmend nur noch maskiert oder unkenntlich gemacht vor die Fernsehkameras.
Die Zeitung «Haaretz» in Tel Aviv hat vor einer Woche beschrieben, wie zwei Reserveoffiziere der israelischen Armee (IDF) bei einem Fernsehinterview schwarze Masken trugen, die nur noch ihre Augen freiliessen. Die beiden hätten wie Bankräuber vor einem Überfall ausgesehen: «Israel verbirgt sein Gesicht: aus Scham, vielleicht, aus Schuld, aus Furcht, und mutmasslich aufgrund von allen drei.» Anscheinend, so der Artikel, gebe es jemanden oder etwas, das es zu verbergen gelte.
Der Trend, meint Journalist Gideon Levy, könnte damit zusammenhängen, dass in der Armee die Angst wächst, allenfalls vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (ICC) wegen Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden: «Der Umstand, dass die Offiziere Masken tragen, lässt vermuten, dass es innerhalb des Militärs ein Einverständnis gibt, dass etwas nicht stimmt und dass Vorsicht am Platz ist. Keine Vorsicht, was sein Vorgehen betrifft, aber Vorsicht, aufgrund der Folgen nicht belangt zu werden.» Eine Armee, die ihre Offiziere schwarze Masken tragen lasse, sei «eine Armee, die weiss, dass sie Verbrechen begeht, auch wenn sie das keinesfalls zugibt».
Gesucht: Baggerführer und Bulldozerdfahrer
Währenddessen treibt die IDF ihre Vorbereitungen für die grosse Gaza-Offensive voran. Vergangene Woche sind rund 60’000 Reservistinnen und Reservisten aufgeboten worden, was den Staat Israel monatlich 640 Millionen Franken kostet. Dazu kommen neben Ausgaben für neue Unterkünfte und Ausbildungsgelände für den Städtekampf auch Kosten für neues Material wie Drohnen, Hunderte Fahrzeuge des Typs Humvee oder schwere Baumaschinen.
Auf Reservisten und Rechtsextreme stützt sich die Armee in Gaza auch, wenn es darum geht, zur Zerstörung der zivilen Infrastruktur schweres Gerät wie Bagger oder Bulldozer zu bedienen. Dabei erlauben Vorgaben der IDF der kämpfenden Truppe, die Zerstörung jedes Gebäudes anzuordnen, das als Bedrohung gilt. Es ist, so «Haaretz», eine «Taktik der verbrannten Erde» – die systematische Zerstörung aller Strukturen in Gebieten, in denen die IDF operiert: «Eine Stadt wie Gaza einzunehmen und zu zerstören, ist in erster Linie ein massiver technischer Aufwand, der die Mobilisierung von Hunderten schwerer Maschinen und von Personal bedingt, um sie zu bedienen.»
Rechtsextreme Helfer
Deshalb hat die israelische Armee Quellen im Feld zufolge aufgrund eines Mangels an Reservisten über soziale Medien zusätzlich Leute rekrutiert, die aufgrund ihrer rechtsextremen Ideologie schweres technisches Gerät bedienen wollen, weil sie die Zerstörung Gazas als ihren Auftrag sehen. Solche Leute finden sich vor allem in radikalen Siedlerkreisen des Westjordanlands. Derzeit zahlt die IDF einem Zivilisten, der einen Bagger fährt, 1’200 Franken pro Tag; ein Baggerfahrer, welcher der Armee angehört, verdient rund 290 Franken am Tag.
Obwohl die israelische Armee das dementiert, operieren solche Einheiten teils eigenmächtig und ohne die kämpfende Truppe über ihre Aktivitäten zu informieren. Dies, obwohl das Soldaten in Gefahr bringen kann, die sie beschützen sollen. So ist es vor zwei Monaten in Khan Yunis zu einem Zwischenfall gekommen, bei dem zwei unbewaffnete Kämpfer der Hamas den 25-jährigen Bulldozerfahrer Abraham Azulay aus der Siedlung Yitzhar vom Fahrzeug rissen, ihm das Gewehr entrissen und ihn erschossen. Was einem IDF-Kommandanten zufolge nie hätte passieren dürfen, weil das fragliche Gebiet noch nicht als gefahrlos deklariert worden war.
«Gaza flach machen»
«Gaza dem Erdboden gleich machen», ist Mitgliedern ziviler Abbruchteams zufolge das Ziel. Auch sollen solche Trupps in Gaza Einheimische wiederholt als menschliche Schutzschilder missbraucht haben, wenn es etwa darum ging, Tunnel zu sprengen.
Die IDF schätzt, dass sich rund 200’000 der bis zu einer Million Bewohnerinnen und Bewohner Gaza-Stadts sich weigern werden, ihre Häuser zu evakuieren und in «humanitäre Zonen» im Süden des Küstenstreifens zu fliehen, wo Luftangriffe allerdings bereits Dutzende von Menschen getötet haben. Das Tempo oder die Intensität seiner Operation, so das Militär, hänge von der Zahl der Palästinenserinnen und Palästinenser ab, welche die Stadt verlassen. So hat die israelische Armee die Bevölkerung per Flugblätter aufgefordert, Gaza-Stadt umgehend zu verlassen. Derzeit kontrolliert die IDF schon 40 Prozent des Stadtgebiets und hat mehrere Hochhäuser bombardiert, die der Hamas als Spähposten gedient haben sollen.
Tote im Norden wie im Süden
Viele der Menschen, die Gaza-Stadt nicht verlassen wollen oder können, sind laut der «New York Times» zu schwach, zu krank, zu hungrig oder zu arm, um erneut in den Süden zu fliehen. Dem 36-jährigen Fotografen Mohammed al-Najjar zufolge würde es ihn rund 800 Franken kosten, um mit seiner Familie nach al-Mawasi umzuziehen und dort ein neues Zelt aufzuschlagen. «Ich mache mir grosse Sorgen, dass wir nie werden zurückkehren können, falls es ihnen (den Israelis) gelingt, uns in den Süden zu vertreiben», sagt der Vater von zwei Kindern: «Und falls wir zurückkehren, wird Gaza-Stadt plattgemacht sein.»
Die 47-jährige Elham Shamali, vor dem Krieg Universitätsprofessorin, pflichtet ihm bei: «Wir wissen, dass wir nie zurückkehren werden, wenn wir jetzt fortgehen.» Auch ihre Familie hat nicht genug Geld, um sich einen Transport in den Süden leisten zu können: «Die Armee hat sowohl im Süden wie im Norden Leute getötet. Was soll das bringen?» Zudem mangelt es in al-Mawasi an Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung und menschenwürdigen Unterkünften.
«Fast alle Medikamente fehlen»
Auch Dr. Bakr Gaoud, ein Arzt am Al Nasser-Kinderspital, wo sein 11-jähriger Sohn Saif Eldin behandelt wird, der an epileptischen Anfällen leidet, kann nicht aus Gaza-Stadt fliehen: «Fast alle Medikamente, die er braucht, fehlen, aber im Süden werden die Verhältnisse noch viel schlimmer sein.» Der Mediziner hat bereits 18 Angehörige seiner Familie, unter ihnen im letzten Monat seinen Bruder und einen Neffen, verloren, und er will nicht noch mehr verlieren. Vor zwei Wochen ist das Haus der Familie im Quartier Sheik Radwan zerstört worden, und sie musste in ein Zelt am Strand umziehen.
Laut einer jüngsten Mitteilung des Gesundheitsministeriums von Mitte Woche sind in Gaza innert 24 Stunden 41 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet und 184 verwundet worden. Zwölf unter ihnen starben und 30 wurden verletzt, als sie auf Nahrungsmittelhilfe warteten. Fünf Personen, unter ihnen ein Kind, verhungerten. Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 sind in Gaza 64’656 Menschen getötet und 163’503 Personen verwundet worden.
Die Sicht israelischer Opfer
Derweil zeigt der israelische Dokumentarfilm «Holding Liat», der dieser Tage anläuft, das Schicksal einer Familie aus dem Kibbutz Nir Oz, wo die Hamas am 7. Oktober 2023 am schlimmsten wütete und die Terroristen 47 Bewohnerinnen und Bewohner des Ortes töteten und 76 Menschen als Geiseln nahmen. Das Kibbutz hat seine Wurzeln in der sozialistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair, die sich für gleiche Rechte für Juden und Araber in einem binationalen Staat einsetzt. Freiwillige aus Nir Oz pflegten kranke Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem wenige Kilometer entfernten Gaza in israelische Spitäler zu fahren
Im Kibbutz lebten auch Liat und Aviv Atzili, eingefleischte Liberale und progressive Eltern von drei Kindern. Beide wurden sie am 7. Oktober von Kämpfern der Hamas verschleppt; als Leiche Aviv, der beim Überfall getötet worden war, und Liat, die nach 54 Tagen Geiselhaft freikam. Der Film schildert die Bemühungen von Liats liberaler Familie in den USA, ihre Freilassung zu erwirken, und sich mit der erschreckenden Gewalt der Attacke der Hamas und der nicht minder brutalen Reaktion der israelischen Armee auseinanderzusetzen, die in ihrem Namen erfolgt. «Wir werden von Verrückten auf beiden Seiten regiert», sagt Liats Vater Jehuda Beinin anlässlich eines Besuchs der Familie in Washington DC, wo sie auf der National Mall unvermittelt in ein Rally geraten, das die MAGA-Bewegung und Israels Militarismus feiert: «Let’s get the fuck out of here. This is bullshit.»
Der Preis der Gleichgültigkeit
«Wir haben einen Preis dafür bezahlt, dass wir nicht anerkannt haben, was in Gaza politisch passiert ist», sagt Liat im Film: «Es ist unaussprechlich, was dort geschah, aber es war dort ein Monster (die Hamas), das immer grösser wurde.» Den Menschen in Gaza gehe es derzeit so schlecht, dass sie von ihnen nicht erwarte, dass sie Empathie für sie empfinden würden: «Aber ich glaube, dass viele Israelis sagen würden, sie hätten jegliche Neigung zur Empathie gegenüber den Menschen verloren, die in Gaza leben.»
Es mache ihr nichts aus, räumt Liat Atzili ein, wenn Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza und im Westjordanland sie hassten, solange es möglich sei, sich mit ihnen darauf zu einigen, Meinungsverschiedenheit nicht mit Gewalt auszutragen. Der Dokumentarfilm «Holding Liat» zeige nicht zuletzt, schreibt ein Filmkritiker des «Guardian», dass Israel und (Premier) Netanjahu nicht synonym sind.
Quellen: Haaretz, The New York Times, The Guardian, Zeteo