Im Feilschen um eine Friedensperspektive fehlt der westlichen Diplomatie der Blick auf die geostrategische Dimension. – Ein Gastbeitrag von Markus Mohler, ehem. Dozent für öffentliches, speziell Sicherheits- und Polizeirecht an den Universitäten Basel und St. Gallen.
Schon vor, aber insbesondere seit der Farce des Treffens von Putin und Trump in Alaska (mit Lawrow im CCCP-Teamshirt!) wird mit Verlautbarungen Trumps und des Kremls, aber auch in den Medien um mögliche Lösungen für eine Beendigung der russischen Aggression in der Ukraine wortreich gefeilscht. Es wird von Gebietstausch, Landtausch, Land als Verhandlungsmasse geschrieben.
Dreierlei fällt dabei auf: Es wird erstens nicht erklärt, worin der Gebiets-Tausch bestehen sollte. Zweitens zeigen sich die westlichen Staaten (und Medien) kommunikativ-semantisch hilflos. Drittens und vor allem wird die Uno-Charta mit ihren hier grundlegenden völkerrechtlichen Bestimmungen mit keinem Wort erwähnt. In Art. 2 Ziff. 4 der Charta steht: «Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.» Auch in «westlichen» Argumentationen werden diese zum zwingenden Völkerrecht gehörenden Bestimmungen ausgeblendet. Dies bedeutet eine bewusste Missachtung der Charta und eine Kapitulation vor den Gewaltverbrechen Russlands.
Damit nicht genug: Lawrow verkündete, Russland werde der Stationierung westlicher Truppen in der Ukraine nie zustimmen. Damit tönte er die nächste Phase der russischen Strategie an. Woher nimmt sich der Kreml das Recht, sich auch über eine weitere Charta-Bestimmung, nämlich jene der souveränen Gleichheit aller Uno-Mitglieder, hinwegzusetzen? Wo blieb die Antwort Europas oder der USA?
Demagogisches Meisterwerk Putins und Xis
Der Hintergrund für die russische Haltung offenbart sich in der «Gemeinsamen Erklärung der Russischen Föderation und der Volksrepublik China über die internationalen Beziehungen beim Eintritt in eine neue Ära und der globalen nachhaltigen Entwicklung», die am 4. Februar 2022 in Peking unterzeichnet wurde. Am Vorabend der damaligen Olympischen Spiele und drei Wochen vor der russischen Aggression gegen die Ukraine präsentierten die beiden Staatschefs ein demagogisches Meisterwerk. Die russisch-chinesischen Standpunkte mit ihren diametralen Widersprüchen werden geschickt verklausuliert dargetan. So bekennen sie sich zwar zur Uno-Charta und den «noblen Zielen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte». Die Förderung und der Schutz der Menschenrechte sei die gemeinsame Verantwortung der Völkergemeinschaft. Die Staaten sollten allen Kategorien der Menschenrechte systematisch gleichermassen Vorrang verleihen. Die internationale Zusammenarbeit hinsichtlich der Menschenrechte soll als Dialog unter gleichberechtigten Staaten ausgetragen werden.
Dann aber: Die universelle Natur der Menschenrechte müsse mit der Optik der realen Situation in jedem Staat betrachtet und die Menschenrechte in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der jeweiligen Bevölkerung geschützt werden. Einige Staaten versuchten ihre eigenen demokratischen Standards auf andere Länder zu übertragen und den Massstab dafür zu monopolisieren. Dieser hegemoniale Anspruch sei eine ernsthafte Bedrohung des weltweiten und regionalen Friedens und untergrabe die Stabilität der Weltordnung.
Nichts mehr von universellen Menschenrechten, von gemeinsamer Verantwortung der Völkergemeinschaft, von gleichberechtigten Staaten oder gar territorialer Unversehrtheit!
Europa als Ganzes im Visier
Hinsichtlich der Haltung Russlands zur Ukraine sind zwei weitere Stellen in dieser Erklärung besonders bedeutend: Die beiden Staaten bekräftigen, die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und die Wahrung der Nachkriegsordnung müssten gewahrt werden. Sie geben vor, die Zuständigkeit der Uno sowie die Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen zu verteidigen. Daher widersetzten sie sich jedem Versuch, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu ignorieren, zu verändern oder zu fälschen. Und: Die chinesische Seite befürwortet und unterstützt die russischen Vorschläge, langzeitlich bindende Sicherheitsgarantien für Europa zu gewährleisten.
Im Klartext heisst dies: Russland beansprucht die Souveränität über alle Territorien der vormaligen Sowjetunion. Wie sich Putin mehrfach ausdrückte, geht es aber nicht «nur» um die Ukraine, sondern um Europa als Ganzes. Oder, wie Medwedew wiederholt verkündete, um die eurasische Gemeinschaft von Wladiwostok bis Lissabon unter russischer Führung.
Damit sind wir wieder beim «Landabtausch», zu dem sich die Ukraine bereit erklären sollte. Dies ist eine höchst gefährliche Sichtweise für ganz Europa. Die Fehler von 2007 (Münchner Rede Putins), 2008 (Georgien) und 2014 (Donbas-Infiltration und Krim-Annexion) dürfen nicht wiederholt werden.