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Gaza

Hamas vor ihrem Ende

16. Oktober 2025
Reinhard Schulze
Gaza
Droht dem zerbombten Gazastreifen jetzt ein innerpalästinensicher Bürgerkrieg? (Keystone/AP/Str)

Im Gazastreifen droht der Machtkampf zwischen der Hamas und rivalisierenden Clanmilizen in einen offenen kriegerischen Konflikt umzuschlagen. Die nationalislamistische Organisation, einst unangefochtene Herrscherin über das Gebiet, verliert die Kontrolle über immer grössere Teile des Territoriums – und versucht durch brutale Machtdemonstrationen, ihre Autorität zu behaupten.

Die Gewalt im Gazastreifen hat in den vergangenen Tagen ein neues Niveau erreicht. Kämpfer der Hamas und bewaffnete Verbände, die sich als Schutztruppen regionaler Clans verstehen, lieferten sich heftige Gefechte, vor allem im Osten von Gaza-Stadt. Besonders schockierend wirkte die öffentliche Hinrichtung mehrerer Gefangener, die die Hamas als Kollaborateure Israels brandmarkte. Die Exekutionen, dokumentiert und im Netz verbreitet, sollten unübersehbar den Anspruch der Organisation unterstreichen, nach wie vor die Ordnungsmacht zu sein. Doch die Bilder zeigten vor allem eines: Die Hamas ist eine Organisation, die zunehmend um ihre politische und militärische Existenz ringt.

Längst übt die Hamas keine umfassende Kontrolle mehr über den Gazastreifen aus. Ihre Herrschaft beschränkt sich auf einige Kernzonen, während andere Gebiete von einem wechselnden Geflecht aus Clanmilizen, Resten der Fatah und lokalen Gruppierungen beherrscht werden. Besonders im Süden machen sich grössere Familienverbände bemerkbar, die sich auf beduinische Traditionen berufen – an ihrer Spitze die Tarabin. Daneben haben sich historische Machtstrukturen zurückgemeldet, etwa der weitverzweigte, in Gaza-Stadt beheimatete Clan der Doghmush, angeführt von Mumtaz Doghmush – einer jener Familienbünde, die schon vor der zweiten Intifada das soziale Gefüge Gazas massgeblich prägte, ein Clan auch, der erheblichen Einfluss auf soziale und ökonomische Netzwerke in Gaza ausübte. Insgesamt sollen über ein Dutzend solcher bewaffneten Verbände, darunter die mächtige Miliz von Husam al-Astal, existieren, die der Hamas in vielen Stadtteilen die Vorherrschaft streitig machen.

Schnellverfahren, Folter, Hinrichtungen

Bereits vor einem Jahr schlossen sich mehrere dieser Gruppierungen zur «Front der Volkskräfte» zusammen. Führend beteiligt ist die Familie Abu Shabab, die als Hauptgegner der Hamas gilt und deren Patron Yasir eine politische Rolle im zukünftigen Gaza zugetraut wird. Ihre Stellung ist jedoch nicht unumstritten: Immer wieder machen Berichte über mögliche frühere Verbindungen zum sogenannten Islamischen Staat die Runde. Der jüngste Gewaltausbruch steht im direkten Zusammenhang mit dieser Lagerbildung. Am 12. Oktober kam es zu einem mehrstündigen Feuergefecht, bei dem über 30 Menschen getötet wurden. Kurz danach rückten die Eliteeinheiten der Hamas, die sogenannten Pfeiltruppen, aus. Sie sollen die verbliebene Machtbasis der Organisation sichern – mit Schnellverfahren, Folter und inszenierten Strafaktionen.

Beobachter sprechen von einer Strategie der symbolischen Gewalt. Die Hamas versuche, ihren zerfallenden Machtapparat durch eine Art «Staatstheater» zu stabilisieren: Exekutionen als Ersatz für institutionelle Autorität. Auffällig ist, dass ihre Kämpfer zunehmend ohne Abzeichen auftreten und so den Eindruck neutraler Ordnungskräfte erwecken wollen. Die Organisation bemüht sich offenkundig, den Übergang von einer reinen Miliz zu einem – wenn auch begrenzt anerkannten – Ordnungsträger zu inszenieren.

Israel unterstützt oppositionelle Clans

Auch auf internationaler Ebene bleiben die Signale widersprüchlich. Präsident Donald Trump äusserte sich nach Bekanntwerden der Exekutionen unerwartet lax. Die Hamas habe, so seine Formulierung, «einige Bandenmitglieder getötet», was ihn «nicht sonderlich gestört» habe. Diese Bemerkung wurde in der Region als stilles Einverständnis interpretiert, dass die USA der Hamas für eine Übergangsphase faktisch Polizeigewalt in den von ihr kontrollierten Gebieten zugestehen könnten. Ein solches Zugeständnis würde sich in die zweite Verhandlungsphase des sogenannten 20-Punkte-Plans einfügen, der eine schrittweise Befriedung des Gazastreifens vorsieht.

Nach übereinstimmenden Berichten hat Israel oppositionelle Clans und Milizen indirekt unterstützt – unter anderem durch die Lieferung erbeuteter Hamas-Waffen sowie durch Material aus eigenen Beständen. Die Massnahme ziele darauf, jene Kräfte zu stärken, die eine pragmatische Kooperation mit Israel anstreben. Gleichzeitig sei ein Teil dieser Waffen auf dem Schwarzmarkt gelandet und in die Hände krimineller Banden übergegangen. Dies verschärfe die Lage und verdeutliche die Risiken eines rein sicherheitspolitischen Ansatzes ohne tragfähige politische Lösung.

Innerpalästinensischer Bürgerkrieg?

Die innerpalästinensischen Auseinandersetzungen werfen zudem die Frage auf, ob der Waffenstillstand langfristig stabil bleiben kann. Einerseits schwächen die Clangefechte die militärische Schlagkraft der Hamas. Andererseits eröffnen sie ihr die Gelegenheit, sich in Teilgebieten als Garant von Ordnung zu präsentieren – ein Narrativ, das internationale Akzeptanz verschaffen könnte. Sollte es der Hamas gelingen, diesen Eindruck zu festigen, wäre es nicht ausgeschlossen, dass sie Israel und internationalen Beobachtern eine Art Sicherheitspartnerschaft anbietet. Damit könnte sie den Weg in eine begrenzte politische Duldung suchen.

Nicht wenige Analysten halten jedoch eine andere Entwicklung für wahrscheinlicher: die Eskalation zu einem innerpalästinensischen Bürgerkrieg. Der Konflikt zwischen Hamas, Clanmilizen und lokalen Machtblöcken könnte sich, so warnen Experten, über die Grenzen des Gazastreifens hinaus ausweiten und auf das Westjordanland übergreifen. Die israelische Armee dürfte sich vorerst zurückhalten und stattdessen versuchen, jene Gruppierungen zu unterstützen, die offen für Kooperation bleiben.

Gefährlicher Balanceakt

Eine Schlüsselrolle kommt nun der palästinensischen Autonomiebehörde zu. Sie hat ageboten, den strategisch wichtigen Grenzübergang in Rafah wieder unter ihre Kontrolle bringen zu wollen – ein symbolischer Schritt auf dem Weg zu grösserer Souveränität. Spezialeinheiten der Behörde, die seit Monaten auf einen Einsatz im Gazastreifen vorbereitet werden, könnten im Süden gemeinsam mit internationalen Sicherheitskräften die Kontrolle übernehmen. Von dort aus liesse sich der Einflussbereich schrittweise nach Norden ausdehnen. Für die Hamas wäre dies ein herber Rückschlag: Eine Entwaffnung der Organisation dürfte ohne die Beteiligung der palästinensischen Polizei kaum möglich sein.

Der Machtkampf in Gaza verdichtet sich damit zu einem gefährlichen Balanceakt. Zwischen dem Versuch der Hamas, als Ordnungsmacht zu überleben, und den Bestrebungen ihrer Gegner, eigene Machtstrukturen zu errichten, droht die politische Substanz des Gazastreifens vollends zu zerfallen. Ob die Region zur Ruhe kommt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die übergeordneten politischen Akteure – Israel, die Autonomiebehörde und die internationalen Vermittler – bereit sind, den Prozess über blosse Sicherheitsarrangements hinauszuführen.

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