Die autoritären Regime seien global in der Offensive, hiess es unlängst in einem «Spiegel»-Kommentar. Gemeint sind vor allem die Machthaber Putin und Xi Jinping im Zusammenhang mit deren Auftritten in Tianjin und an der Pekinger Militärparade. Den Kontrast zu ihrer angeblichen Anziehungskraft demonstriert Trump mit seinen zerstörerischen Provokationen gegenüber traditionellen demokratischen Allianzpartnern.
Soviel muss man dem «Spiegel»-Kommentator zugestehen: Das von China organisierte Gipfeltreffen in dieser Woche von Staats- und Regierungschefs der Shanghai-Gruppe in Tianjin sorgte weitherum für grössere Schlagzeilen und symbolträchtige Bilder. Sie zeigten den indischen Ministerpräsidenten Modi händchenhaltend mit dem russischen Staatschef Putin Kopf an Kopf im vertrauten Gespräch mit dem chinesischen Gastgeber Xi Jinping. Solche Bilder zeigten, meinten manche Beobachter, dass Xi und Putin erfolgreich dabei seien, ihr eigenes antiwestliches Lager zu verbreiten. «Beim Versuch, die Weltordnung nach ihrem Willen umzugestalten, kommen Xi Jinping und Wladimir Putin voran», liest man im «Spiegel».
Die «neue Weltordnung» der Autokraten
Das ist allerdings eine These mit vielen Fragezeichen und Widersprüchen. Zum einen bedeutet die Anwesenheit beim Shanghai-Gipfel von Diktatoren wie Lukaschenko aus Belarus, Min Aung Hlaing aus Myanmar-Burma, Kim Jong Un aus Nordkorea oder des iranischen Präsidenten Massud Peseshkian noch keine überzeugende Ausweitung des antiwestlichen Lagers. Diese Länder zählen sich schon lange zu diesem Verbund.
Anders liegen die Dinge beim Auftritt Modis mit Xi und Putin. Das gutgelaunte Tête-à-Tête mit den beiden autoritären Machthabern lässt sich zwar als Ausdruck entspannterer Beziehungen mit China und Russland interpretieren, aber keineswegs schon als Mitgliedschaft in einer fundamental antiwestlichen oder antidemokratischen Allianz, wie sie Putin und Xi verkörpern. Modi mag manche Probleme und Differenzen mit westlichen Ländern haben, gegenwärtig vor allem mit den USA. Doch als Mitglied eines antiwestlichen Bündnisses von Diktatoren kann man ihn nicht ernsthaft einstufen. Nicht zufällig war der indische Regierungschef denn auch bei der waffenstarrenden Militärparade, die Xi nach dem Tianjin-Gipfel in Peking zum 80. Jahrestag des «Sieges über Japan» inszenierte, nicht unter den Gästen. Die alte Tradition der politischen Allianzfreiheit ist offenkundig auch in Modis Indien immer noch tiefer verwurzelt.
Putin und Xi haben bei ihren Erklärungen am Shanghai-Gipfel und der Pekinger Parade mehrfach auf ihre Erzählungen von einer «neuen Weltordnung» angespielt. Diese müsse, sagte der chinesische Machthaber, frei sein von «Hegemoniestreben und Machtpolitik und wahren Multilateralismus praktizieren». Und Putin beschwor ein System, das «die Interessen diverser Länder wahrhaft in Rechnung stellt, anders als die eurozentrischen und euroatlantischen Modelle». Angesichts des seit mehr als drei Jahren tobenden russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine klingen solche blumigen Formeln von der Respektierung der Interessen anderer Länder wie blanker Hohn. Man fragt sich, ob solche ungereimten Erzählungen aus dem Munde von Autokraten, die in ihrem eigenen Herrschaftsbereich keine Opposition und freie Meinungsäusserungen dulden, für die Menschen in ihren eigenen Ländern und auf anderen Kontinenten tatsächlich so attraktiv sind, wie das die Propagandisten einer «neuen Weltordnung» behaupten.
Trumps destruktive Allianzpolitik
Andererseits lässt sich nicht bestreiten, dass die innere Zusammengehörigkeit und Glaubwürdigkeit des sogenannten westlichen oder demokratischen Lagers zurzeit deutliche Schwachstellen oder gar Zerfallserscheinungen aufweist. Ein Hauptgrund für diese bedauerliche Entwicklung ist bei der zersetzenden Aussenpolitik des Egomanen Trump zu suchen. Blind für die längerfristigen Folgen seines Leitspruchs «Amerika zuerst» ist er dabei, das in Jahrzehnten von Washington aufgebaute Netzwerk von Allianzen und zugewandten Partnerländern mit brachialen Methoden und Provokationen zu unterminieren oder einzufrieren. Die traditionellen Verbündeten in Europa werden mit willkürlichen Strafzöllen vor den Kopf gestossen. Die um ihre Existenz kämpfende Ukraine wird nur noch mit Waffen beliefert, die von den Nato-Partnern bezahlt werden, während für den Aggressor Putin in Alaska der rote Teppich ausgerollt wird und die versprochenen Bemühungen um einen Waffenstilland vom Kreml endlos blockiert bleiben.
Besonders destruktiv und schädlich für die wahren Interessen Amerikas sind Trumps Aktionen gegenüber Indien und Brasilien, den bevölkerungsreichsten Mächten auf dem asiatischen und lateinamerikanischen Kontinent, die dank ihrer demokratischen Grundstruktur eigentlich zu den natürlichen Partnern des kollektiven Westens zählen. Doch Trump ist in seiner zweiten Amtszeit bisher nichts Klügeres eingefallen, als gegen Brasilien ein Kesseltreiben anzuzetteln, weil dessen früherer Präsident Jair Bolsonaro dort vor Gericht steht, um sich gegen die Anklage eines Putschversuchs wegen seiner gescheiterten Wiederwahl zu verantworten. Der US-Präsident bezeichnet dieses rechtsstaatliche Justizverfahren als Hexenjagd und verlangt ultimativ dessen Aufhebung.
Provokationen gegen Brasilien und Indien
Der britische «Economist» kommentiert diese eklatante Einmischung Trumps in die inneren Angelegenheiten des lateinamerikanischen Nachbarn mit folgendem Vergleich: Brasilien sei mit dem Bolsonaro-Prozess dabei, seine Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stärken, während die USA immer protektionistischer und autoritärer regiert würden. Brasilien biete somit den USA eine «Lektion in Sachen demokratischer Reife». Trump hat bekanntlich nach seiner verlorenen Wiederwahl im Jahr 2020 einen Putsch-Versuch seiner Anhänger gegen den Kongress angeheizt. Die später von der Justiz verurteilten gewalttätigen Aktivisten hat er kurz nach seinem neuen Einzug ins Weisser Haus mehrheitlich begnadigt. Weil die brasilianische Justiz den Bolsonaro-Prozess nicht wie verlangt einstellt, wird das Land jetzt mit US-Zolltarifen von 50 Prozent bestraft.
Nicht weniger abstrus und kontraproduktiv für die eigenen Interessen ist Trumps Umgang mit Indien. Angeblich als Bestrafung für Indiens umfangreiche Importe von russischem Erdöl hat er im August den Zolltarif für die Einfuhr indischer Waren auf massive 50 Prozent erhöht. Diese Massnahme begründete er zwar als notwendigen Schritt, um Indien vom weiteren Bezug russischen Öls abzuhalten, doch merkwürdigerweise werden nicht konsequent alle Länder, die weiterhin russisches Öl und Gas importieren, mit dieser hohen Zollstrafe belastet. Delhi reagiert auf diese höchst unfreundliche Entscheidung äussert verärgert, zumal sich Trump gleichzeitig mit herablassenden Kommentaren über den Zustand der indischen Wirtschaft geäussert hatte. Die «New York Times» warf Trump in einem Kommentar vor, er habe in wenigen Monaten die Annäherung zwischen den beiden Ländern zerstört, um die sich Washington drei Jahrzehnte lang bemüht habe. Kaum zweifelhaft ist das demonstrativ freundschaftliche Auftreten des indischen Regierungschefs Modi mit Putin und Xi Jinping beim Gipfeltreffen der Shanghai-Gruppe erheblich von diesen provokativen Signalen Trumps motiviert worden.
Ein Wendepunkt in Europa?
Doch solche Signale illustrieren im Grunde nur eine Momentaufnahme. Sie sind noch kein Beweis für eine langfristige Zukunft. Ob die Despoten Xi und Putin ihrem eigenen Volk und vielen anderen Ländern eine bessere, erfolgreichere und erstrebenswertere «Erzählung» bieten können, als das demokratische «Narrativ» es demonstriert und verspricht, vermag heute niemand mit Sicherheit vorauszusagen. Tatsache ist nur, dass der Zusammenhalt, die Stabilität und die Glaubwürdigkeit des demokratischen «Modells» zurzeit stark unter Druck stehen – und dass diese Erschütterungen viel mit Trumps zersetzender, unberechenbarer Bündnis- und Partnerschaftspolitik zu tun haben.
Hoffnungsloser Pessimismus aber wäre die falsche Reaktion auf diesen unerfreulichen Ist-Zustand. Das leitete nur zusätzliches Wasser auf die Mühlen der Putin-Propagandisten und Xi-Apologeten. Krisen können auch Weckrufe zur Erneuerung auslösen. Der engere Schulterschluss der europäischen Führungsmächte zur nachhaltigen Unterstützung der Ukraine und zur Durchsetzung von Sicherheitsgarantien für das bedrohte Nachbarland wird von späteren Historikern vielleicht einmal als ein positiver Wendepunkt für die «demokratische Erzählung» gewürdigt werden.