Die israelische Regierung hat laut einer eigenen Datei die Zahl der in Gaza getöteten Hamas-Kämpfer übertrieben. Derweil nennt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Vorwürfe lediglich «Lärm», die besagen, er sei ein Kriegsverbrecher. «Wenn wir Völkermord begehen wollten, hätten wir es während eines Nachmittags getan», sagt er in einem Podcast.
Den herkömmlichen internationalen Medien stellt sich Benjamin Netanjahu nur ungern. Lieber spricht er mit Podcastern wie jüngst mit den in der «Manosphere» beliebten «Nelk Boys» aus dem Umfeld der MAGA-Bewegung oder mit den Moderatoren der «British Triggernometry», eines Podcasts, der sich gegen Cancel-Culture positioniert hat und gelegentlich prominente Verteidiger Israels aus dem rechten Lager einlädt.
Im 40-minütigen Gespräch mit den britischen Podcastern verteidigte Israels Premier seinen rechtsextremen Finanzminister Bezalel Smotrich und dessen aggressive Rhetorik: «Was ich glaube, sage ich. In jedem parlamentarischen System sind die Leute frei, Dinge zu sagen, die sie nicht unbedingt meinen. (…) Im Grossen und Ganzen ist die (israelische) Regierung vereint.» Das Sicherheitskabinett, so Netanjahu, diskutiere ethnische Säuberung nicht. Es gebe aber abweichende Meinungen.
«Kein Israeli will Siedlungen»
Wenn man ihn frage, ob es seine Politik sei, was er (Smotrich) sage, antworte er, das sei nicht der Fall: «Ich plane nicht, Siedlungen oder Gemeinschaften zu bauen. Keine israelischen. Ich will danach (nach dem Krieg) eine nicht-israelische zivile Regierung (in Gaza), die sich dazu verpflichtet, mit uns im Frieden zu leben.»
Israel, sagte Netanjahu, sei eine Demokratie: «Ich dulde ethnische Säuberung nicht. Ich will Gaza weder besetzen noch besiedeln.» Ziel Israels sei es, «einen Sicherheitsgürtel» zu haben. Doch keinesfalls wollte sich der Premier im Podcast allzu sehr in die Nähe Bezalel Smotrichs rücken lassen: «Ich bin zu beschäftigt damit, den Krieg zu gewinnen, als dass ich jede einzelne Lüge dementieren könnte, die sich gegen mich richtet. ‘Sie sind ein Kriegsverbrecher.’ Es ist nur Lärm.»
«Eine unabhängige Kommission»
Und schon gar nicht wollte Benjamin Netanjahu den Vorwurf auf sich sitzen lassen, sein Land begehe in Gaza Genozid: «Wenn wir Völkermord begehen wollten, hätten wir es innert eines Nachmittags getan.» Überraschend auch Netanjahus Aussage, die seinem bisherigen Verhalten widerspricht, eine Kommission müsse unabhängig untersuchen, was im Vorfeld des 7. Oktobers 2023 (des Tages des Massakers und der Geiselnahme der Hamas) in Israel geschehen sei: «Es sollte von oben her untersucht werden, vom Ministerpräsidenten hinunter bis zum militärischen Personal. Das muss geschehen.» Verantwortlich für Versäumnisse sei zumindest teilweise die Vorstellung gewesen, die Hamas sei (genügend) abgeschreckt und zu einem Massaker nicht fähig.
Benjamin Netanjahu dementierte ferner, Israel habe (vor dem 7. Oktober) eine verhängnisvolle Rolle gespielt, indem es Katar erlaubte, der Hamas Geld zukommen zu lassen, um die Fatah und die Palästinenserbehörde (im Westjordanland) zu schwächen. Er sei seinerzeit dagegen gewesen, Gaza zu verlassen und sei aus der Regierung ausgetreten, als sie es tat, weil er überzeugt gewesen sei, dass die Hamas den Küstenstreifen übernehmen und ein de-facto palästinensischer Staat dazu benutzt werden würde, um Israel mit Raketen und Geschossen zu attackieren.
Machterhalt als erstes Ziel
Nach der Machtübernahme der Hamas und der Errichtung einer Terror-Bastion habe sich die Frage gestellt, wie künftig damit umzugehen sei: «Es gab dazu mehrere Überlegungen; eine sah vor, der Zivilbevölkerung zu helfen, um sicherzustellen, dass keine Krankheiten ausbrechen, sich um die Abwasser und die Elektrizität zu kümmern und zu verhindern, dass es eine Hungersnot gab: «Das war eine Politik des beschränkten Geldausgebens – es war ein Bruchteil von all den Milliarden (aus Katar) und die Ausgaben wurden überwacht.»
Die Aussagen Benjamin Netanjahus dem britischen Podcast gegenüber sind typisch für einen Politiker, der sich nicht festlegen lassen will, der nie einen Fehler eingesteht und es wenn möglich allen Seiten recht machen will. Und der dabei seine Eigeninteressen und seinen Machterhalt nie aus den Augen verliert. Letzterer scheint vor allem darin zu bestehen, den Krieg in Gaza noch möglichst lange weiterzuführen, um sich nach einem allfälligen Zusammenbruch der Regierung in Jerusalem ja nicht einer Justiz stellen zu müssen, die ihn unter Umständen ins Gefängnis steckte.
Israels immense Kriegskosten
So taktiert denn der israelische Premier auch im Hinblick auf die angekündigte, vom Kabinett abgesegnete, von Angehörigen der israelischen Geiseln und der internationalen Gemeinschaft aber abgelehnte militärischen Offensive in Gaza-Stadt, die es der Armee erlauben soll, nicht nur 75 Prozent Gazas, sondern den ganzen Küstenstreifen zu kontrollieren. Was die erneute Vertreibung von zwischen 500’000 und 800’000 Menschen Richtung Süden in angeblich humanitäre Zonen beinhalten würde.
Zu den bereits 60’000 einberufenen Reservisten, die teils bereits während Monaten im Einsatz sind, sollen weitere 50’000 mobilisiert werden – eine zusätzliche Belastung für Israels eh bereits unter Druck stehende Wirtschaft. Experten schätzen die wöchentlichen Kriegsausgaben auf fast 500 Millionen Franken. Finanzminister Smotrich spricht von 200 Millionen. Fragt sich zudem, wie Israel, sollte es den ganzen Gaza-Streifen besetzen, diese Entwicklung finanzieren will. Einem Berater des Verteidigungsministeriums in Tel Aviv zufolge würden die Kosten wohl zwischen 7 Milliarden Shekel (CHF 1,68 Mrd.) und 10 Milliarden (CHF 2,4 Mrd.) liegen. Dazu kämen im Normalfall noch 25 Milliarden Shekel (CHF 6 Mrd.) an Verteidigungsausgaben.
«Hungersnot in Gaza»
Israels Vorhaben, ganz Gaza zu kontrollieren, erfolgt zu einem Zeitpunkt, da die NGO «Integrated Food Security Phase Classification» (IPC) zum Schluss kommt, dass gemäss ihren Kriterien im Gouvernorat von Gaza, das Gaza-Stadt und deren Umgebung umfasst, Hungersnot herrscht und sich diese in absehbarer Zeit auf weitere Gebiete ausdehnen könnte: «Diese Hungersnot ist gänzlich von Menschen gemacht, sie kann gestoppt und rückgängig gemacht werden.»
Offiziell ist die Feststellung des 2004 gegründeten Gremiums nicht: Das zu tun wäre die Aufgabe von Regierungen, internationalen Organisationen oder humanitären NGOs. Seit ihrer Gründung hat die ICP 2011 in Somalia, 2017 im Südsudan und 2024 im Sudan aktuelle Verhältnisse als Hungersnot klassifiziert. Afghanistan, Syrien und der Jemen gehören zu Ländern mit akut bedrohter Nahrungsversorgung.
«Unzuverlässige Quellen»
Israels für Hilfe in Gaza zuständige Behörde weist die Folgerungen der ICP zurück, da sie unvollständig seien und auf unzuverlässigen Quellen basierten, von denen viele mit der Hamas assoziiert seien. Auch lasse das internationale Gremium die umfangreichen humanitären Bemühungen Israels und seiner internationalen Partner (vor allem der USA) sträflich ausser Acht. Was die israelische Behöre nicht erwähnt ist, der Umstand, dass bisher über 1’000 Menschen getötet worden sind, die bei den vier Verteilstellen der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) auf Lebensmittelhilfe warteten.
«Wie so oft beim Umgang mit israelischen Offiziellen und mit Netanjahu im Besonderen ist es kompliziert, herauszufinden, was jeweils stimmt und was nicht und was gezielte Irreführung ist», schreibt Peter Beaumont, der frühere langjährige Israel-Korrespondent und heutige internationale Chefreporter des Londoner «Guardian». Das trifft aufgrund von Recherchen mehrerer Medien auch im Fall jener klassifizierten Datenbank der israelischen Armee (IDF) zu, welche die Namen jener Kämpfer der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) auflistet, welche die IDF tatsächlich getötet oder wahrscheinlich eliminiert hat. Die Datei führt namentlich 47’653 Palästinenser auf, die sie als aktive Mitglieder der militärischen Flügel der Hamas und des PIJ einstuft.
83 Prozent tote Zivilisten
Den Angaben der Datenbank zufolge hatte die IDF bis zum 19. Mai 2025, d. h. nach 19 Monaten Krieg in Gaza, 8’900 Kämpfer beider Terrorgruppen getötet. Das waren aber lediglich 17 Prozent jener bis zu diesem Tag 53’000 getöteten Palästinenserinnen und Palästinenser, die das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium auflistete – eine Statistik, die nicht zwischen Zivilisten und Militanten unterscheidet. Das heisst im Klartext: Vier von fünf Getöteten in Gaza sind Zivilisten. Dem «Uppsala Conflict Date Program» (UCDP) zufolge, das weltweit zivile Opfer dokumentiert, ist die Zahl der Toten im Küstenstreifen «unüblich hoch» – vergleichbar in Konflikten nur mit dem Massaker der Serben in Srebrenica, dem Genozid in Ruanda oder der russischen Belagerung der ukrainischen Stadt Mariupol.
Die israelische Armee äussert sich nicht näher zu ihrer Datenbank, hält aber fest, die zitierten Zahlen seien «inkorrekt», ohne zu spezifizieren, welche Zahlen das sind: «Die Zahlen spiegeln nicht die Daten in den Systemen der IDF wider.» Was für Systeme das sind, mag die IDF ebenfalls nicht verraten. Auf jeden Fall hatten israelische Politiker und Generäle die Zahl der in Gaza getöteten Kämpfer wiederholt mit 20’000 angegeben, d. h. rund auf jeden getöteten Militanten wäre nur ein Zivilist gekommen.
«Ein ganz grosser Bluff»
Doch die 20’000 Toten umfassten unter Umständen Zivilisten, die mit der Hamas in irgendeiner Funktion, zum Beispiel als Regierungsbeamte oder Polizisten, liiert waren. Dabei verbietet das internationale Recht, Menschen zu attackieren, die nicht in einen Kampf involviert sind. «Leute werden nach ihrem Tod in den Rang eines Terroristen befördert», sagt ein israelischer Nachrichtenmann, der Truppen in Gaza begleitet hat: «Wenn ich auf die Angaben der Brigade gehört hätte, wäre ich zum Schluss gekommen, dass wir 200 Prozent der Hamas-Kämpfer im betreffenden Gebiet getötet hatten.»
General Itzhak Brik, der zu Beginn des Krieges noch Benjamin Netanjahu beraten hatte, inzwischen aber zu dessen schärfsten Kritikern zählt, sagt heute, israelische Soldaten seien sich des Umstands bewusst, dass die Politiker die Zahl der getöteten Hamas-Kämpfer übertreiben: «Es gibt absolut keinen Link zwischen den Zahlen, die verkündet werden, und dem, was in Wirklichkeit geschieht. Es ist nur ein ganz grosser Bluff.»
«Nicht auf die Beine gezielt»
Auch gemäss dem palästinensischen Analysten Mohammed Shehada vom European Council on Foreign Relations (ECFR) sind die Verlustzahlen aufgebläht, die israelische Offizielle öffentlich anführen. Israel, folgert er, dehne die Grenzen aus, so dass es jede Person in Gaza als Hamas definieren könne: «All dieses Töten erfolgt für den Moment aus taktischen Gründen, die nichts damit zu tun haben, eine Bedrohung auszulöschen.»
Aussagen israelischer Soldaten zufolge sollten sie alle Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza als Ziele betrachten. Seine Einheit in Rafah, sagte etwa ein Armeeangehöriger, habe «eine imaginäre Linie» in den Sand gezogen und auf alle geschossen, die sie überquerten, einschliesslich zweimal auf Kinder und einmal auf eine Frau. Sie hätten geschossen, um zu töten und nicht um zu warnen: «Keiner hat auf ihre Beine gezielt.»
15’000 neue Hamas-Mitglieder?
Sollte es demnächst tatsächlich zur angekündigten Operation der IDF in Gaza-Stadt kommen, so würde sie einem westlichen Militär zufolge nichts bringen: «Was wir sehen, ist ein weiterer verzweifelter Versuch, der aber nichts bringen wird. Es wäre nur mehr vom Selben.» Der Einsatz, meint er, würde keinesfalls zu etwas führen, was möglicherweise als Sieg bezeichnet werden könnte: «Es ist grundlose Gewalt ohne jeglichen militärischen Zweck.»
Israelischen und palästinensischen Experten zufolge stellt die Hamas keine militärische Bedrohung für Israel mehr dar. Je länger der Krieg aber dauert, desto eher aber könnte die Hamas erneut erstarken. Laut amerikanischen Geheimdienstquellen hat die Islamische Widerstandsorganisation seit Kriegsbeginn 15’000 neue Mitglieder rekrutiert – fast doppelt so viele, wie Israel im Mai angab, seit dem 7. Oktober 2023 getötet zu haben.
Quellen: Haaretz, Tachles, The Guardian, The New York Times, The Washington Post