In Locarno beginnt am 4. Oktober die Jahrhundertfeier des sogenannten «Locarnopaktes von 1925». Bei diesem Abkommen handelt es sich um einen auf Schweizer Boden vereinbarten Sicherheitsvertrag. Der Vertrag leitete nach den von Kriegen und grossen Spannungen geprägten Jahren des Ersten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit eine kurze Phase der Entspannung ein.
Erfolgreich verhandelten vor hundert Jahren vier führende, ehemalige kriegführende Mächte – Deutsches Reich, Frankreich, Grossbritannien, Italien – sowie das kriegsversehrte Belgien und das 1918 wiedererstandene Polen sowie der neue Staat Tschechoslowakei vom 4. bis zum 16. Oktober 1925 über einen Sicherheitspakt und über Schiedsgerichtsverfahren.
Streben um Vertrauen zwischen Sieger- und Verlierermächten
Das Ringen zwischen Berlin, Paris und London, das 1914 mit einem blutigen Krieg begonnen hatte, war im November 1918 im Westen durch einen Waffenstillstand unterbrochen worden. Die Auseinandersetzung ging darauf Ende Juni 1919 jedoch mit einem Siegfrieden (Vertrag von Versailles) in eine weitere Konfliktart über. Das heftige Ringen wurde für die betroffenen Mächte eigentlich erst am 16. Oktober 1925 auf Schweizer Boden beendet.
Nach den äusserst angespannten Jahren 1923 und 1924 (Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien) wünschte vor allem London Entspannungsschritte Richtung Berlin. Die britischen Diplomaten sprachen sich zunächst mit Paris, dem Verbündeten aus dem Ersten Weltkrieg, ab. Dem Wunsche Frankreichs, eine internationale Garantie der deutschen Westgrenze samt Verzicht auf Elsass-Lothringen zu erlangen, war der deutsche Reichsaussenminister Gustav Stresemann (1878–1929) unter dem Einfluss der britischen Diplomatie durchaus zu einem Entgegenkommen bereit. In diesem Lichte kam zu Beginn des Jahres 1925 Bewegung auf.
Zunächst kam es im Februar 1925 zu einseitigen Entspannungsmassnahmen der Franzosen und der Belgier, zur Räumung des Ruhrgebietes. Präzise diplomatische Vorarbeiten wurden zwischen den drei Hauptteilnehmern der zukünftigen Konferenz aufgenommen. Zwischen London, Paris und Berlin begann sich sich etwas zu bewegen. Zunächst legten die Deutschen zuhanden der Franzosen eine Denkschrift vor, die darauf einen diplomatischen Notenaustausch auslöste. Dieser Prozess wurde von persönlichen Gesprächen zwischen Diplomaten und Politikern in Paris, Berlin und London begleitet. Der Austausch erfolgte in strukturierter Form und wohl auch in gegenseitiger Absprache und trug dazu bei, dass bei jedem diplomatischen Schritt das Vertrauen zwischen den beiden Siegermächten und dem Besiegten von 1918/19, d. h. den Deutschen, gestärkt wurde.
Wahl des Konferenzorts Locarno
In diesen diplomatischen Bemühungen trat das Deutsche Reich als gleichberechtigt auf. Dies war seit 1914 neu. Es handelte sich um eine Diplomatie des guten Willens, ohne Täuschungen, ohne List, ohne versteckte oder gar offene Drohungen. Bei allem Festhalten am Versailler Vertrag gingen schliesslich Franzosen und Briten zur Behandlung praktischer Fragen über. Zügig sollte eine internationale Konferenz einberufen werden, dazu eingeladen sollten neben den Italienern und Belgiern auch Polen und Tschechoslowaken.
Es waren die Briten, die Franzosen und die Deutschen, welche die Wahl des Konferenzlandes trafen. Diese fiel auf die Schweiz, den vom Kriege verschonten Staat, seit 1920 Sitzstaat des Völkerbundes. Es war auch das Land, dessen differenzielle Neutralität 1920 von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges anerkannt worden war. Beim Ort der Tagung ging es darum, dass dieser nicht zu weit von Italien liegen sollte, damit der starke Mann Mussolini auch daran teilnehmen konnte. Ohne dass sich die unter der Leitung des ansonsten aktiven Tessiners Giuseppe Motta (1871–1940) stehende eidgenössische Diplomatie ins Zeug legen musste, fanden die Franzosen in Locarno den geeigneten Ort. Sie schickten im Sommer 1925 einen Beamten dorthin, um im Hinblick auf die Durchführung eines solchen Anlasses vor Ort zu sondieren.
Erst am 20. September 1925 wurde in der Presse bekannt, dass Locarno im Oktober eine internationale Konferenz auf hoher Ebene beherbergen werde. Von Gaststaat und schweizerischen Behörden war dabei keine Rede, dies ausgerechnet im Heimatkanton des umtriebigen Aussenministers. Nicht eingeladen war die damals aussenpolitisch isolierte Sowjetunion. Ein Störmanöver in letzter Minute des bolschewistischen «Volkskommissars für Auswärtiges», G. Tschitscherin, misslang. Trotz eines Treffens in Berlin mit Stresemann gelang es anfangs Oktober dem kommunistischen Aussenminister in Berlin nicht, die deutsche Delegation von der Reise nach Locarno abzubringen. Der 1922 hinter dem Rücken der Siegermächte abgeschlossene Vertrag von Rapallo zwischen Berlin und Moskau hatte diesbezüglich keine Wirkung, Berlin war es viel wichtiger, mit den Westmächten zu einer Einigung zu gelangen, als dem Sonderverhältnis mit dem unberechenbaren Kreml den Vorrang zu gewähren.
Eidgenössische Zurückhaltung
Am 4. Oktober wurde die Konferenz in einem repräsentativen Gebäude in der hübschen Kleinstadt am oberen Langensee feierlich eröffnet. Dem einzigen Schweizer, der zugegen war, dem Bürgermeister G. Rusca (1881–1961), fiel die Ehre zu, hochrangige europäische Politiker wie den deutschen Reichskanzler Hans Luther (1879–1962), dessen Aussenminister Stresemann, den französischen Aussenminister Aristide Briand (1862–1932) und den britischen Aussenminister Austen Chamberlain (1863–1937) zu begrüssen.
Sonst waren schweizerische Behördenvertreter nicht zugegen. Weder hörte und las man etwas vom Tessiner Staatsrat, noch vom Bundesrat. Einmal wurde auf den Strassen Locarnos der Tessiner Staatsrat G. Cattori (1866–1932), ein ganz enger Vertrauter Mottas, erblickt. Im Gegensatz dazu war die schweizerische Presse sehr gut vertreten, über 30 Schweizer zählte man unter den 206 akkreditierten Journalisten. Auch 13 US-Amerikaner kamen nach Locarno. Diese berichteten fleissig und eingehend über den Verlauf der Tagung. Der Höhepunkt der Konferenz war am Schluss sicher der zweitägige Aufenthalt Benito Mussolinis (1883–1945), Ministerpräsident und Aussenminister Italiens, schon damals «Duce» der faschistischen Bewegung, die soeben ein autoritäres Regime errichtet hatte.
Zusammen mit den sechs andern Aussenministern und dem deutschen Reichskanzler konnte Mussolini am 16. Oktober 1925 den Pakt paraphieren und auch ein an den Bürgermeister Rusca gerichtetes Dankesschreiben unterzeichnen, «en mémoire de son obligeance et de sa charmante hospitalité ». Damit war die Rolle des Gastlandes erschöpft, eidgenössische Zurückhaltung und Bescheidenheit in reinster Form …
Der deutsche Reichskanzler, die Aussenminister und Chefdiplomaten hatten über zehn Tage hinweg ein Dokument ausgehandelt, wo fortan die Hauptunterzeichner Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Italien und Belgien auf Gewaltanwendung in allen Fällen, mit Ausnahme der Selbstverteidigungverzichteten. Ausserdem erfolgte eine Aufwertung des Völkerbundes, der im folgenden Jahr das Deutsche Reich aufnehmen sollte.
Der «Geist von Locarno»
Das Abkommen wurde sogleich als diplomatischer Meilenstein gefeiert, der Jahre von Spannungen zwischen den westlichen europäischen Grossmächten beendete: «Die Delegierten der hier vertretenen Regierungen erklären ihre feste Überzeugung, dass die Inkraftsetzung dieser Verträge und Abkommen in hohem Masse dazu beitragen wird, eine moralische Entspannung zwischen den Nationen herbeizuführen, dass sie die Lösung vieler politischer und wirtschaftlicher Probleme gemäss den Interessen und Empfindungen der Völker stark erleichtern wird, und dass sie so, indem sie Frieden und Sicherheit in Europa festigt, das geeignete Mittel sein wird, in wirksamer Weise die im Artikel 8 der Völkerbundssatzung vorgesehene Entwaffnung zu beschleunigen.»
Beim Locarnopakt handelte es sich fraglos um das grundlegendste Abkommen zur Stabilisierung Europas nach dem Ersten Weltkrieg. Die Verträge bestätigten die Grenzen des Deutschen Reiches zu Frankreich und zu Belgien und bekräftigten den entmilitarisierten Status des Rheinlandes wie er 1919 in Versailles festgelegt worden war. Franzosen und Belgier räumten denn auch im Dezember 1925 die Zone um Köln. Der Völkerbund in Genf wurde durch die 1926 erfolgte Aufnahme des Deutschen Reiches aufgewertet.
Locarno war zudem ein Beitrag zur Kriegsverhütung durch Angriffs- und Kriegsverbot sowie Stärkung der friedlichen Streitbeilegung durch verschiedene Schiedsgerichtsverträge. In jenem Jahre 1925 räumten sieben Staaten aus Europa ihre Differenzen gemeinsam aus, anstatt auf bilaterale Lösungen zurückzugreifen. So entstand der «Geist von Locarno».
Friedensnobelpreis für Briand, Stresemann und Chamberlain
Zwar konnte Locarno das Problem der nach der deutschen Niederlage gezogenen deutschen Ostgrenzen nicht endgültig lösen. Diesbezüglich konnte man sich immerhin auf je einen Schiedsvertrag zwischen dem Deutschen Reich, Polen und der Tschechoslowakei einigen. Dennoch war das Schweigen zu den deutschen Ostgrenzen gegenüber dem 1918 wiedererstandenen Polen ein Mangel des Abkommens.
Erwartet wurde in Europa vor einem Jahrhundert vom «Locarnopakt» eine wesentliche Entspannung des deutsch-französischen Verhältnisses und überhaupt ein neues Vertrauensverhältnis sowie eine friedliche Verständigung in Europa bis zu den Grenzen des isolierten, bolschewistischen Russlands. Die Verträge von Locarno wurden als so bedeutend eingeschätzt, dass die Hauptverhandlungsführer – die Aussenminister Aristide Briand, Gustav Stresemann und Austen Chamberlain – dafür 1926 den Friedensnobelpreis erhielten.
Doch Versöhnung und Entspannung waren nur von kurzer Dauer. Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland beendete abrupt die kurze Friedensphase von etwas mehr als sieben Jahren und führte schliesslich in den von Hitler-Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg.
Abruptes Ende der Friedensphase
Im September 1926 in den Völkerbund aufgenommen, schied das Deutsche Reich schon im Herbst 1933 wieder aus, nachdem die Nazis an die Macht gelangt waren. 1936 schickte Hitler Truppen ins Rheinland und brach damit das Abkommen von Locarno auch in aller Form. Das europäische Sicherheitssystem wurde zerstört, Kriege wurden wieder möglich. Nur drei Jahre später brach denn auch der Zweite Weltkrieg aus.
Immerhin, in Locarno gelang erstmals eine deutsch-französisiche Verständigung. In Genf, anlässlich der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund, bekräftigten Stresemann und Briand den Willen zu einer weiteren Verständigung. Die Fortschritte der in Locarno begonnenen Annäherung wurden allerdings bald durch nationalistische Stimmen in der öffentlichen Meinung in beiden Ländern erschwert. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges konnten Charles de Gaulle (1890–1970) und Konrad Adenauer (1876–1967, der einem konsequenten Westkurs verpflichtet war, immerhin darauf aufbauen.
Locarno war auch ein Versuch, die Machtpolitik als zentrale Logik der zwischenstaatlichen Beziehungen über Völkerrecht und Schiedsverfahren – also mit dem Recht – zu ersetzen und eine Diplomatie zu schaffen, die auf Zusammenarbeit und gegenseitiges Vertrauen fusst. Fest steht, dass es den in Locarno versammelten Aussenministern sowie dem damaligen schon autoritär regierenden italienischen Ministerpräsidenten Mussolini tatsächlich formell gelungen war, über das Völkerrecht die Macht der Nationalstaaten zu zähmen und einzuschränken. Die Schiedsgerichtsbarkeit, die im Mittelpunkt der Verträge von Locarno stand, war ein Schlüsselelement der damaligen Aussenpolitik der Schweiz.
Vergessene Schlichtungsverfahren
Die Frage stellt sich, ob zum hundertsten Jahrestag des Paktes und angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, der verstärkten russischen Drohungen gegen europäische Staaten, eines fallweise isolationistischen Amerikas Locarno Lehren dafür bieten könnte, wie oder ob man Frieden und Vertrauen zwischen verfeindeten Staaten erneut wiederherstellen könnte.
Die heutige Lage ist allerdings grundlegend verschieden. Zunächst gibt es keinen eindeutigen Verlierer wie damals. Vor allem sind heute ganz offensichtlich aus dem Kreml keine Stimmen zu hören, welche Mässigung predigen und echte Bereitschaft zur Verständigung mit den andern europäischen Staaten zeigen würden. Von einer Diplomatie des guten Willens, ohne Täuschungen und Drohungen kann gegenwärtig keine Rede sein.
Ausserdem spricht niemand von Schlichtungsverfahren. Dabei wären diese sicher sehr nützlich. Damals erklärte sich Deutschland bereit, alle territorialen Streitigkeiten mit Frankreich, Belgien, der Tschechoslowakei und Polen durch eine unabhängige Schlichtung unter Vermittlung einer neutralen Drittpartei beizulegen. Spricht darüber überhaupt jemand im Krieg Ukraine-Russland, geschweige denn im offenen Konflikt zwischen den europäischen Staaten und dem revisionistischen und besonders aggressiven Russland? Und die Rolle der USA? Könnte eine Verständigung heute wirklich ohne die grösste Militärmacht gehen?
Diskreter Festakt
Die Schlussbemerkung gehört unserem Land, wo ein malerisches Städtchen am Locarnersee immerhin dank dem «Geist von Locarno» in die Geschichte eingehen konnte. Wie oben dargelegt, beschränkte sich der Beitrag der Schweiz auf Zurverfügungstellung des Ortes, dies erst noch ohne viel Aufwand und Kosten. Bundesrat und schweizerische Diplomatie schwiegen, niemand aus dem Bundeshaus liess sich bekanntlich in Locarno blicken, man blieb dem Geschehen von Anfang bis Ende wohl aus Rücksichtnahme, vielleicht gar aus Demut, fern. Man wollte vor allem ja nicht unnötig stören. Dennoch hatten Verträge von Locarno eine günstige Wirkung auf das Bild des Gastgeberlandes Schweiz.
Die Jahrhundertfeier in diesem Herbst bleibt auf die lokale Ebene begrenzt. In Locarno sieht man Plakatsäulen, wo für Anlässe, die im Rahmen der Jahrhundertfeier stattfinden, geworben wird. Am 4. Oktober wird in Locarno ein Festakt stattfinden, vorher und nachher werden Konferenzen durchgeführt, die sich in erster Linie an ein historisch interessiertes Publikum richten. Aus dem Ausland hat es einzig die Friedrich-Ebert-Stiftung geschafft, eine Tagung durchzuführen. Vom Auftritt von Würdenträgern aus dem Ausland ist bisher nichts bekannt.