Die Anforderungen an sie sind hoch, jede Menge Kritik ist ihnen sicher, und auch das Arbeitsklima ist nicht immer das allerbeste. Denn Streit ist an der Tagesordnung. Wer in den Bundesrat will, sollte sich das gut überlegen. Der frühere Bundeskanzler Walter Thurnherr hat ein faszinierendes und facettenreiches Buch über eine einzigartige Form des Regierens geschrieben.
In den frühen Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts unternahm der Journalist Niklaus Meienberg einen Ausflug in die Appenzeller Voralpen. Anlass war der Besuch bei einem Mann, der ihm als «Saftwurzel» beschrieben worden war, als eine Art «Landesgottheit», die in Innerrhoden eine Menge Ämter auf sich vereine und den Kanton überdies in Bern als Ständerat vertrete. Raymond Broger, so sein Name, schien Meienbergs Hoffnung zu erfüllen, «einmal einen vollständig erhaltenen Konservativen aus der Nähe betrachten zu dürfen». Und so verbrachte er denn mit diesem Berg von einem Mann ein Wochenende, und beschrieb es launig in der Reportage «Gespräche mit Broger und Eindrücke aus den Voralpen». «Zwischen Biss und Schluck tischt Broger ein bisschen Politik auf», berichtete er. «Erzählt von Furgler, zwar ein guter Freund von ihm, aber grässlich ehrgeizig, und wie kann man bloss seinen Ehrgeiz darein setzen, Bundesrat zu werden in einem Land wie der Schweiz, wo die nationale Exekutive so wenig Macht habe und dies bisschen Macht erst noch kollegial verwalten müsse.»
«Verrückt ging es im Bundesrat zu»
Ja, wie kann man nur? Es hat seinen Grund, warum der ehemalige Bundeskanzler Walter Thurnherr ein Meienberg-Zitat an den Beginn eines Buches über den Bundesrat stellt, das diese weltweit einzigartige Form des Regierens in all ihren Facetten darstellt. Auch in den menschlich durchaus betrüblichen. «Ich habe im Bundesrath niemand, dem ich vertrauen könnte», schreibt Bundesrat Emil Welti 1883 an seinen ehemaligen Kollegen Simeon Bavier. Und weiter: «Auf der einen Seite schwache Menschen, auf der anderen Intriganten.» Ähnlich krass drückt es 1955 Bundesrat Markus Feldmann in seinem Tagebuch aus: «Heute an einem einzigen Tag 4 Briefe und 1 Telephon von Geisteskranken erhalten. Mehr oder weniger verrückt ging es heute auch im Bundesrat zu.»
Es habe seinen Grund, dass es so schwer sei, aus sieben Einzelkämpfern jenes Team zu formen, das Verfassung und Gesetz fordern, stellt Thurnherr fest. Das habe weniger mit parteipolitischen oder weltanschaulichen Differenzen zu tun als mit menschlichen Schwächen. Denn «persönliche Eigenschaften, die den Aufstieg in den Bundesrat begünstigen, erweisen sich für die Zusammenarbeit im Kollegium nicht immer als hilfreich».
Was geschieht in der Bundesratssitzung?
Was also braucht es? Wie sieht diese Arbeit überhaupt aus, die da auf einen Bundesrat, eine Bundesrätin wartet? Wie funktioniert der Bundesrat im Alltag, wie bewährt er sich im Krisenfall? Welche Rolle spielt der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin, welche der Bundeskanzler? Wie hat sich das Verhältnis zu den Medien verändert, wie steht es um die Beziehungen zum Parlament und zu den Kantonen? Das sind Fragen, denen Thurnherr nachgeht, um am Ende bei einer immer wieder erörterten zu landen: Was ist ein guter Bundesrat?
Walter Thurnherr kennt sich exzellent aus in den Verästelungen der Schweizer Staatsverwaltung, weil er nicht nur von 2016 bis 2023 die Bundeskanzlei geleitet, sondern zuvor als Generalsekretär von gleich drei Departementen deren Optik kennen gelernt hat. Und er bedient sich einer Sprache, die farbig und konkret die Dinge schildert. Das zeigt sich schon im Eingangskapitel, das eine normale Bundesratssitzung beschreibt, die jeweils am Mittwoch – zu Sessionszeiten am Freitag – um 9 Uhr beginnt und bis in den Mittag hinein dauert. Die Kaffeepause zum Start, ein gemeinsames Mittagessen am Ende, dazwischen Verschnaufpausen: Das sind wichtige Gelegenheiten für die Regierungsmitglieder, miteinander ins Gespräch zu kommen und alte Konflikte hinter sich zu lassen.
Bundesräte sind (auch) Konkurrenten
Viele Geschäfte werden rasch erledigt, andere brauchen Zeit, oder manchmal auch eine Verschiebung. Oft aber liegt der Kompromiss schon auf dem Tisch, weil dem Bundesratsbeschluss eine sogenannte Ämterkonsultation und das sogenannte Mitberichtsverfahren vorausgegangen ist. Die Ämter der andern Departemente äussern sich zu Sachfragen, Mitberichte geben abweichende politische Haltungen wieder. Das gibt, in der Summe, einen ganzen Haufen von Akten, mit deren Lektüre die Bundesräte meist ihre Wochenenden verbringen. Aber in dieser gründlichen Vorbereitung zeigen sich die enormen Vorzüge des Kollegialsystems schweizerischer Prägung. Die gesamte Verwaltung spannt zusammen, um einer Vorlage die optimale Gestalt zu geben. Thurnherr spricht denn auch von «kollektiver Intelligenz», die da im besten Fall am Werk ist.
Dass das nicht immer gelingt, hat Gründe. Bundesräte sind immer auch Konkurrenten. Sie agieren nicht im luftleeren Raum, stehen vielleicht unter Druck oder wollen einen Erfolg nicht mit anderen teilen. Immer wieder zeigt sich, gerade in Krisen: Man hätte ein Problem kommen sehen können. Die Kritik am Bankgeheimnis zum Beispiel setzte Jahrzehnte vor dessen erzwungener Abschaffung ein. Hätte Bundesrat Hans-Rudolf Merz also dem Parlament frühzeitig erklären sollen, das Bankgeheimnis lasse sich nicht mehr halten, statt zu sagen, an diesem Bankgeheimnis würden sich die Angreifer noch «die Zähne ausbeissen»? Walter Thurnherr hat seine Zweifel, ob die NZZ und alle andern Zeitungen dann geschrieben hätten: «Endlich ein längerfristig denkender Bundesrat!» Vielmehr hätten sie wohl gefragt: «Wie lange kann sich Merz noch halten?»
Die Medien sind Mitspieler geworden
Die Medien sind im ganzen Prozess nicht nur Beobachter, sondern oft auch Mitspieler. Ihr Gewicht und ihr Rollenverständnis haben sich gewandelt. Noch 1983 konnte Bundesrat Kurt Furgler bei der Verleihung des «BZ-Preises für Lokaljournalismus» eine Art «hippokratischen Eid für Medienschaffende» skizzieren, mit der Empfehlung, «da zu reden, wo Schweigen Schaden brächte, und da zu schweigen, wo Reden Schaden brächte». Ans Schweigen denken Medienschaffende nicht mehr, es käme auch keinem Bundesrat mehr in den Sinn, einen Journalisten vorzuladen, wenn ihm ein Kommentar oder Bericht nicht gefallen hat, wie dies damals noch der Brauch war. Stattdessen sind die Medienvertreter dankbare Empfänger von Indiskretionen geworden, deren Urheber natürlich auch ihre Interessen verfolgen. Was Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf 2015 zur bissig-ironischen Bemerkung veranlasst hat: «Manchmal sind die Entscheide von mir schon online, bevor ich sie gefällt habe.»
Damit allerdings muss ein Bundesrat, muss eine Bundesrätin ebenso leben wie mit dem permanenten politischen Gegenwind. Und mit der beinahe im Wochentakt medial aufgewärmten Frage, ob XY nun ein starker oder ein schwacher Bundesrat sei. Walter Thurnherr, der doch einige Bundesräte aus der Nähe erlebt hat, rät da sehr zur Vorsicht, aus mehreren Gründen. Erstens sind solche Urteile stets zeitbedingt. Bundesrat Pierre Aubert – Aussenminister von 1978 bis 1987 – wurde zum Beispiel heftig kritisiert für seine häufigen Auslandsreisen. Mit 55 Reisen in zehn Jahren würde ein Aussenminister heute vielleicht auch kritisiert – «aber eher dafür, dass er zu wenig reise».
«Gutes Wollen, unvollkommenes Vollbringen»
Zweitens stellt sich die Frage, ob ein «guter» Bundesrat einer sei, der pragmatisch handelt und Kompromissen nicht abgeneigt ist. Oder einer, der mutig den Weg in die Zukunft aufzeigt und vorprescht – wie Bundesrat Pascal Couchepin, der schon 2003 ein höheres Rentenalter gefordert hat. Drittens stellt sich die Frage nach den Kriterien für bundesrätliche Qualität, die Thurnherr an einem Beispiel erläutert: «Ist ein Bundesrat ‹nicht gut›, weil er in einer schwierigen Zeit, zum Beispiel während eines Krieges, im Interesse des Landes vorsichtig laviert, abwägt und abwartet, um die Schweiz aus dem Krieg herauszuhalten, oder ist er gerade deswegen ‹gut›?» Im zweiten Fall käme die Politik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wesentlich besser weg als im ersten.
Vielleicht aber sollte man ohnehin aufhören, im Kollektivwerk namens «Schweizer Regierungskunst» nach Heldinnen oder Helden, Anführern und Mitläufern zu fahnden. Und sich so bescheiden geben wie Bundesrat Ernst Brugger, der für sich gesagt hat: «Meine Arbeit war eine Mischung von gutem Wollen und unvollkommenem Vollbringen. Es ist schwer, in der Schweiz ein Nationalheld zu werden.»
Da möchte man gerne hinzufügen: Es ist auch nicht nötig.
Walter Thurnherr: Wie der Bundesrat die Schweiz regiert und weshalb es trotzdem funktioniert. Kein & Aber, Zürich 2025, 400 Seiten