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INDIAN OCEAN

Ein südasiatischer Frühling?

11. September 2025
Bernard Imhasly
Nepal
Das brennende Regierungsgebäude in Kathmandu am 9. September 2023 (Keystone/AP Photo/Prakash Timalsina)

Kommt nach dem Arabischen ein Südasiatischer Frühling? Nach Sri Lanka und Bangladesch kam es nun auch in Nepal zu einem Regierungssturz. Lassen sich die drei Staaten vergleichen? Und wo bleibt Indien?

Die Parallelen sind rasch zur Hand. In Sri Lanka 2022 wie in Bangladesch vor einem Jahr begann es mit mehr oder weniger spontanen Jugendprotesten, die rasch zu einem Massenaufruhr führten; in allen drei Ländern wirkten die Sozialen Medien als Brandbeschleuniger. Und alle drei Regierungen reagierten mit massiver Repression, die Märtyrer produzierte und die Opfer- und Gewaltbereitschaft herstellten, die beide Male zum Regierungssturz führten. 

Keine organisierte Oppositon

Doch während sich die Proteste in Dhaka und Colombo über Wochen hinzogen, erreichten die Demonstrationen gegen ein Verbot von Medien-Plattformen in zwei Tagen ein Mass an Gewalt und Zerstörung, das präzedenzlos war. Dreissig Tote – überwiegend Protestierende, aber auch Unbeteiligte, Randalierer, Politiker – und über eintausend Verletzte waren am Mittwoch zu verzeichnen. Die Regierung war gestürzt, die Armee auf den Strassen, und überall im zentralen Teil des Kathmandu-Tals wiesen Rauchsäulen auf zerstörte Häuser und Regierungsgebäude, darunter das Parlament, der Regierungssitz und ein Gerichtsgebäude.

Der Auslöser – das Verbot von 26 Medienkanälen – ebenso wie die Eigendynamik der rasante Gewaltspirale sind ein Indiz, dass im Gegensatz zu Sri Lanka und Bangladesch keine organisierte Opposition dahintersteht. Und genau dies ist ein Fingerzeig für die Erklärung der unerwarteten Explosion. Denn die wichtigsten etablierten Parteien haben sich in den 16 Jahren, seit Nepal eine demokratische Verfassung hat, ständig auf die Ausübung der Regierungsmacht geeinigt und abgelöst. Es gibt keine starke innerparlamentarische Opposition. Es ist viel attraktiver, abwechselnd die Macht auszuüben.

Zu den Gebäuden, die am Dienstag abgefackelt wurden, zählen jene aller bisherigen Premierminister (und eines Ex-Präsidenten). Es waren alle prächtige Privatresidenzen und damit Symbole für die zentrale Protest-Agenda: Eine Korruption, die im krassen Gegensatz zu den hehren Zielen der Partei-Manifeste stehen. Ein Beispiel ist der Palast von ‚Prachanda‘ Dahal, dem maoistischen Guerilla-Leader, dessen blutiger Partisanenkrieg vor zwanzig Jahren zum Sturz der Monarchie und dessen anti-demokratischer Verfassung geführt hatten.

Ignorierte Warnzeichen

In Sri Lanka 2022 war es noch die katastrophale Wirtschaftslage gewesen, die die Menschen auf die Strasse getrieben hatte. Doch bereits letztes Jahr in Bangladesch waren es zwei zentrale Aspekte der Wirtschaftsmisere, die den Auslöser bereitstellten: Jobs und die Ausbildungsplätze, die dafür das Eingangstor bereitstellen. 

Genau diese Themen waren in Koppelung mit der Korruption das beherrschende Thema der Medienkanäle, die vor Wochenfrist von der Regierung verboten worden waren. Denn sie enthüllten neben dem Fünfstern-Lifestyle der «Jeunesse Dorée» die Leichtigkeit, mit denen diese knappe Studienplätze belegt hatte, bevor sie auf den ohnehin dünn gesäten Stellen bei Banken, Unternehmen und Staat landete. 

Und immer wieder, so notierte der nepalische Journalist Yuvaraj Ghimire, bezogen sich die «Gen Z»-Autor/innen auf die Ereignisse in den südasiatischen Nachbarländern. Die aufeinanderfolgenden Regierungen – besonders die jüngste unter K. P. Sharma Oli, seines Zeichens zum dritten Mal Premierminister – vermochten die Warnzeichen nicht zu lesen. Umstellt von einflüsternden Günstlingen vertrauten sie dem Repressionsapparat, der darauf getrimmt ist, Gesetzesverbote mit harter Hand durchzusetzen.

Der Nachhall des Arabischen Frühlings wird dagegen kaum als Inspirationsquelle spürbar. Das mag mit den ernüchternden Folgen dieser Bewegung zu tun haben. Der Ausgangspunkt in Südasien ist zudem ein anderer: Hier geht es nicht um den Sturz eines etablierten autokratischen Systems. Es sind alles lautstarke und funktionierende Demokratien, auch wenn sie von innen durch Interessengruppen langsam ausgehöhlt werden.

Indien kein Leuchtturm

Der wichtigste Unterschied ist zweifellos der ökonomische Entwicklungsgrad grosser Bevölkerungsgruppen. Die weitverbreitete Armut bildet ein Konfliktpotential, und dieses nimmt wegen schwacher Bildungsinstitutionen und dem demographischen Wachstum ständig zu. 

Die technologischen Innovationen zeigen, statt genutzt zu werden, ihre negativen Auswirkungen. Sie machen das breite handwerkliche Auffangbecken einer modernisierenden Wirtschaft zunehmend redundant. Gleichzeitig schaffen sie in Form der globalen visuellen Verbreitung erfolgreicher Lebensmodelle Hoffnungen und Aspirationen, welche die Realität nicht erfüllen kann.

Es mag erstaunen, dass dieser Gärungsprozess im grössten Staat der Region nicht gleichermassen festzustellen ist. Hat es Indien, die historische Leitfigur der Demokratie in Südasien, besser geschafft, durch eine stabile Wirtschaft und funktionierende demokratische Ventile diese Aspirationen aufzufangen und als Wachstumsimpulse zu nutzen?

Aber in keinem der Nachbarländer erscheint Indien als Leuchtturm, an dem man sich orientieren oder in dem man partizipieren kann. Wenn überhaupt, dann ist es der informelle indische Arbeitsmarkt, der gerade für junge Nepaler eine dünne Einkommensdecke verspricht, wenn Stellenangebote im ungleich lukrativeren arabischen Raum allmählich rar werden. Doch ohne gültige Arbeitsverträge und ohne verbrieftes Wohnrecht können Lohnüberweisungen zurück ins Bergdorf ebenso schnell verschwinden, wie sie gekommen sind. 

Klammergriff des Kastensystems

Das Auseinanderklaffen eines immer grösseren Reservoirs schlecht ausgebildeter Arbeitswilliger und eines immer kleineren Reservoirs offener Stellen (mit immer anspruchsvolleren Skill-Sets) ist auch in Indien zu beobachten. 

Der Grund, warum diese explosive Mischung in Indien bisher nicht zu einem Flächenbrand wurde, ist nicht leicht herauszufiltern. Ein Faktor mag der Klammergriff des Kastensystems sein. Das Abbremsen der sozialen und ökonomischen Mobilität durch die Akzeptanz einer hierarchischen Unterordnung gemäss uralten Kastengrenzen wird heute zwar öffentlich breit verhandelt. Dennoch sind die zugrundeliegenden Denkmuster individuell (und familiär!) immer noch tief eingeprägt. 

Das Resultat sind dann nicht gewalttätige Proteste, auch nicht die Brandschatzung von Politiker-Palästen. Warum soll man Häuser in Flammen aufgehen lassen, in denen man selber gern wohnen möchte? Viel lieber organisiert man sich in Zusammenrottungen und Hungerstreiks, um Politiker spüren zu lassen, dass Tausende von Wahlstimmen beim nächsten Urnengang zur Disposition stehen. 

So geschehen letzte Woche in Mumbai: Hunderttausende von Angehörigen der «Mahratten»-Bauernkaste strömten in die Innenstadt und blockierten das öffentliche Leben. Fokus war der Hungerstreik eines jungen Aktivisten namens Jarange Patil. Er forderte genau das, was auch die Demonstranten in Kathmandu und Dhaka und Colombo wollen: Jobs und Studienplätze.

Das Nullsummenspiel

Die Mahratten sind eine Bauernkaste, die (wahl)politisch und ökonomisch stark ist und deshalb nicht damit rechnen kann, dass sie vom Staat diesbezüglich Sonderrechte erhält, die für noch ärmere Kasten vorgesehen sind. Also weibeln sie für einen noch tieferen (!) Kastenstatus. 

Solche Proteste gehören in Indien zur täglichen Zeitungslektüre. Doch im immer kleineren Schul- und Job-Kuchen fühlt sich inzwischen beinahe jede Kaste benachteiligt und will sich ein grösseres Stück abschneiden 

Das Resultat ist ein Nullsummenspiel, und der Staat weiss dies. So wird den Forderungen schliesslich nachgegeben, und die Leute gehen nach Hause – bis zum nächsten Ultimatum: Der jüngste Hungerstreik von Jarange Patil war bereits der sechste. Und jedes Mal war er erfolgreich gewesen. 

Ob sich diese Scharade beliebig weiterspielen lässt? Man kann es bezweifeln. In Kathmandu wurde nach 17 Jahren einer höchst unfertigen Demokratie aus Frustration plötzlich blutiger Ernst. 

Auch in Indien schmiedet sich die psychische Spannung unerfüllter Ansprüche allmählich zur Waffe. Dies gilt gerade für junge Männer, die von ihren weiblichen Artgenossinnen in Sachen Schuldbildung und Jobs abgehängt werden. Aber auch dafür hat der Staat ein probates Placebo: sie werden von politischen Parteien in Schlägertrupps rekrutiert, die sich gegen Andersdenkende und Andersgläubige einsetzen lassen. 

Oder sie mischen sich wie in Kathmandu in die grosse Zahl friedlicher Demonstranten. Am Mittwoch, als in den Strassen wieder Ruhe einkehrte, liessen sich in den (wieder zugelassenen) Info-Kanälen viele Gen-Z-Vertreter vernehmen. Sie feierten ihren unverhofften Sieg. Und sie verurteilten die Plünderungen und Brandschatzungen als «Exzesse von Aussenstehenden». Was sie wohl nicht ahnten: Die Gewalt- und Beutelust entsprang wohl derselben unbewussten und tiefsitzenden Hoffnungslosigkeit. 

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