Der 13. Oktober 2025 könnte als Wendepunkt in die Geschichte eingehen: In Gaza schweigen die Waffen, garantiert von einer seltenen Allianz aus vier Staaten. Präsident Trump spricht von einem «Ende eines Kriegs», Beobachter nennen es historisch. Doch die Kraft dieses Moments liegt weniger im Triumph über Gewalt als in der Hoffnung, dass sich aus der Müdigkeit der Region eine neue politische Ordnung formen lässt.
Der am 13. Oktober 2025 in Kraft getretene Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas, der durch eine international breit unterstützte Vierstaatenerklärung garantiert wurde, hat den bislang längsten Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn vorerst beendet. Der US-amerikanische Präsident Donald Trump feiert dieses Ereignis überschwänglich als «Ende eines Kriegs», das einen Wendepunkt in einer 3000-jährigen Geschichte der Feindschaft bedeute.
Auch nüchterne Beobachter betrachten den Tag als «historisch». Die freudige Erleichterung über die Freilassung der letzten zwanzig israelischen Geiseln aus der Gewalt der Hamas und die Bilder frohlockender Menschen auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv sowie in den Trümmerfeldern des Gazastreifens verstärken den Eindruck, dass mehr als zwei Jahre nach dem Schrecken des 7. Oktober 2023 etwas Grosses geschehen ist.
Ein lautes Aber
Doch allenthalben melden sich Stimmen, die den euphorischen Statements mit einem betonten «Aber» antworten. Der Krieg sei zwar vorerst vorbei, doch der Weg zur Befriedung sei lang, steinig und das Ergebnis sei ungewiss. Es könne nicht garantiert werden, dass die Hamas gänzlich entwaffnet und ihre politisch-militärische Struktur aufgelöst würde. Es sei auch nicht gewiss, ob sich eine internationale Sicherungstruppe durchsetzen könne. Ebenso wenig sei gewiss, dass sich die israelischen Streitkräfte gänzlich aus dem Gazastreifen zurückzögen und auf erneute militärische Interventionen verzichteten.
Dieses skeptische «Aber» ist angesichts der Erfahrungen der vergangenen Monate und Jahre durchaus angebracht. Und doch überwiegt der Eindruck, dass mit dem Vierstaatenabkommen ein Durchbruch erzielt wurde. Ursächlich hierfür ist die Gestalt des Prozesses. Er unterscheidet zwischen Prinzipien, die im von Trump gestützten 20-Punkte-Plan niedergeschrieben sind, und noch offenen Vereinbarungen über ihre Umsetzung. Diese 20 Punkte, die zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Zielen unterscheiden, haben nicht nur dadurch eine starke Verbindlichkeit gewonnen, dass sie von vier Signatarmächten garantiert werden, sondern auch dadurch, dass sie von der internationalen Gemeinschaft bezeugt und damit übernommen wurden.
Selbstverständlich kann der auf den 20 Prinzipien basierende Prozess scheitern. Dazu braucht es nicht viel. Doch der Wille, den Prozess zum Erfolg zu bringen, bedingt mehr als nur ein Schweigen der Waffen. Er ist nur erfolgreich, wenn er von seinem Ende her betrachtet wird. Das tragende Prinzip des Waffenstillstandsabkommens und der von den USA, Ägypten, der Türkei und Qatar unterzeichneten Vierstaatenerklärung ist die Festlegung auf den Grundsatz «zwei Völker, zwei Staaten». Der Prozess ist die Vorbedingung dafür, dass dieser Grundsatz auch für die palästinensische Bevölkerung Wirklichkeit wird.
Ein neuer Staat Palästina – der Sieg über die Parastaaten
Die Autonomiebehörde, die die Staatlichkeit Palästinas zu vertreten beansprucht, hat den Krieg in Gaza nicht verhindern können. Die PA musste die Sezession der politischen Macht in Gaza durch den Putsch der Hamas im Jahr 2007 ohnmächtig zulassen. Sie konnte ihren Kernauftrag, die palästinensische Gesellschaft in Gaza vor der Gewalt der Usurpatoren zu schützen, nicht erfüllen. Sie konnte die Terroroffensive der Hamas am 7. Oktober 2023 nicht verhindern und hat auch keine politischen Mittel gefunden, um der Gewalt israelischer Siedler im Westjordanland entgegenzutreten.
Jetzt besteht die Chance, Palästina als Staat neu zu denken. Das immer wieder angesprochene Prinzip «zwei Völker, zwei Staaten», dem sich auch die israelische Regierung nicht verschliessen kann, bedingt, dass sich die palästinensische Gesellschaft eine neue Repräsentationsordnung gibt. Diese muss die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die neue Staatlichkeit definieren. Diese muss garantieren, dass es in der palästinensischen Gesellschaft zukünftig keine parastaatliche Macht mehr gibt.
Neue Visionen in Zeiten des Umbruchs
Das Kriegsende in Gaza ist historisch, da es den Umbruch und die politische Neuordnung im Nahen Osten sichtbar macht. Dieser Umbruch hat eine Paradoxie geschaffen: Er ermöglichte der Hamas ihren Terror gegen die israelische Bevölkerung und zugleich die politisch-militärische Überwindung des Kriegs, der durch diesen Terror ausgelöst wurde.
Der hintergründige Wandel hatte schon mit dem Arabischen Frühling begonnen und paradoxe Welten freigesetzt: Einerseits die unerwartete Durchsetzung ultrareligiöser Gewaltmacht in Gestalt des sogenannten Islamischen Staats und seiner mannigfaltigen Trittbrettfahrer, andererseits die Hoffnung auf einen neuen Nahen Osten, der zu Prosperität, Wohlfahrt und freiheitlicher Demokratie finden werde.
Vielleicht wird man später sagen, dass der Gazakrieg einen Wendepunkt brachte. Dabei sah es anfangs noch so aus, als würde der Krieg den Nahen Osten in einen grossen regionalen Krieg verstricken. Die Hamas versuchte, die iranische Führung und die parastaatlichen Nachbarn im Libanon, in Syrien und im Irak in einer Front zusammenzubinden. Der Iran wiederum sah in der Hamas einen nützlichen Partner, um gemeinsam mit seinen Proxys seinen imperialen Zielen im «Fruchtbaren Halbmond» näher zu kommen und seine messianische nationalreligiöse Ideologie zu verwirklichen. Doch die «Achse des islamischen Widerstands», die seit 2012 die imperiale Politik des Iran prägte, zerbrach im Herbst und Winter 2024: Schliesslich sagte sich die Hamas vom Iran los und auch die iranische Führung ging deutlich auf Distanz zur Hamas.
Letztendlich hatte kein Staat mehr ein Interesse an der Fortführung des Kriegs. Selbst die Türkei und Qatar, die beiden letzten Schutzmächte der Hamas, verkündeten, dass die Zeit der Hamas abgelaufen sei.
Der neue Nahe Osten
Ein Merkmal des neuen Nahen Ostens wird sein, dass der Palästinakonflikt die politische Landschaft der Region nicht mehr bestimmt. Fast 90 Jahre lang war der Nahe Osten Geisel dieses Konflikts. Er wurde immer wieder ideologisch und politisch neu aufgeladen, am stärksten wohl im Rahmen des Ost-West-Konflikts. Dieser Konflikt dominierte den Nahen Osten so sehr, dass seine Muster selbst das Ende des Ostblocks 1989/91 überdauerten – trotz des Oslo-Prozesses 1991/95.
Doch der Palästinakonflikt wurde zum Ballast und zur Quelle, aus der die nationalreligiöse Ideologisierung des Politischen schöpfte. In den Krisenjahren 2015/17 wurde deutlich, dass dieser Konflikt mehr ist als nur eine Verwerfung in der politischen Landschaft des Nahen Ostens. Er wurde zur Bedrohung. Die Hamas hat mit ihrer Usurpation und ihrem Terror unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, welche Gefahren in diesem Konflikt lauern. So begannen bereits 2017 intensive Bemühungen um eine Neuordnung des Nahen Ostens. Doch die nationalreligiöse Rhetorik um Palästina sowie entsprechende ideologische Setzungen in der israelischen Politik liessen diese Bemühungen bis auf wenige Ausnahmen ins Leere laufen.
Die expansive Politik des Iran, die ultranationalistische Ideologie der Hamas und die ultrareligiösen Terrorbünde des Islamischen Staats brachten schliesslich die Wende. Das am 15. September 2020 verkündete Abraham-Abkommen, das inhaltlich ein Gewaltverzichtsabkommen darstellte, gab den Takt dieser Wende vor. Die Terroroffensive der Hamas drei Jahre später war auch ein Versuch, die Zeit zurückzudrehen und den Nahen Osten zum Kriegsfeld ihrer ultrareligiösen Erweckungsideologie zu machen.
Der Tag der Unterzeichnung des Gaza-Abkommens in Scharm el-Scheich ist historisch, da er der erste Höhepunkt dieser historischen Wende ist. Wohin sich der Prozess aber wenden wird, ist alles andere als klar. Gewiss geben die Prinzipien eine Richtung vor. So wollen sie die Wende steuern, dass Palästina aufhört, Gegenstand des Konflikts und des Kriegs zu sein. Sie streben eine Politik der Befriedung und der Versöhnung an.
Doch dies setzt voraus, dass auch die innergesellschaftlichen Verhältnisse befriedet werden. Denn der Gazakonflikt hat nicht nur die regionale Politik, sondern auch die innenpolitischen Verhältnisse massgeblich bestimmt. In Israel hat er zu einer dramatischen Verschiebung der politischen Landschaft ins nationalreligiöse Lager beigetragen und die israelische Gesellschaft fast an den Rand eines Bürgerkriegs geführt. Er ermöglichte es der Regierung Netanjahu, den Krieg gegen die Hamas über die konsensuellen Kriegsziele hinaus zu einem nationalreligiösen Projekt zu ideologisieren und ihre autoritären Politikmuster damit zu überlagern.
In Palästina hat er die parastaatliche Macht der Hamas in Gaza zementiert, die Zellen des Islamischen Jihad im Westjordanland gestärkt und die Ideale einer zivilgesellschaftlichen Neugestaltung des Politischen untergraben. Die aktuellen militanten Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und oppositionellen Gruppen in Gaza-Stadt zeigen, wie dringlich die innergesellschaftliche Befriedung ist.
Eine Zäsur
Das Abkommen von Scharm el-Scheich, das den Waffenstillstand in Gaza absichert, spiegelt die neuen geopolitischen Realitäten in der Region, die auch Freiräume für die innergesellschaftliche Befriedung in Israel wie in Palästina schaffen. Ja, es könnte sogar zum Türöffner für eine neue iranische Politik gegenüber dem Nahen Osten und damit sogar gegenüber Israel werden.
Die Stärke des 20-Punkte-Plans und seiner Materialisierung im Abkommen von Scharm el-Scheich liegt in der Unbestimmtheit der Umsetzung seiner Prinzipien. Solange der Umsetzungsprozess diesen Prinzipien treu bleibt, kann er viel gestalten. Auch das Abraham-Abkommen ist nur eine Prinzipienerklärung, doch seine Wirkungsmacht reicht weit über seinen Wortlaut hinaus.
Der Tag von Scharm el-Scheich wird als Zäsur in Erinnerung bleiben, als symbolischer Höhepunkt eines Jahrzehnts der tektonischen Verschiebungen. Doch Geschichte ist kein Garant für Zukunft.
Das Prinzip «zwei Völker, zwei Staaten» weist den Weg, aber noch keinen Ausgang. Die Region steht am Beginn einer neuen Phase – zwischen Pragmatismus und politischer Müdigkeit, zwischen nationaler Neuordnung und gesellschaftlicher Fragilität.
Vielleicht wird man in zwanzig Jahren sagen, der 13. Oktober 2025 habe den Nahen Osten verändert. Doch heute, da die Waffen schweigen, beginnt erst der schwerste Teil des Friedens: sein Erhalt.