In Südsyrien eskaliert die Situation unvermindert weiter. Vertreter beduinischer Verbände rufen zum Boykott der drusischen Gemeinschaften auf und schwören, erst wieder Kaffee zu trinken, wenn die Hoheit des Regimes von Damaskus über die Provinzhauptstadt Suwaida wiederhergestellt ist.
Die drusischen Gemeinschaften stärken trotz ablehnender Haltung der drusischen Geistlichkeit den separatistischen Flügel der drusischen Autonomiebewegung. Das HTS-Regime in Damaskus hat die Truppen des Verteidigungs- und des Innenministeriums aus der Provinz abgezogen. Das israelische Militär bekundet durch gezielte Luftangriffe seine Allianz mit den Separatisten.
Komplexe Zusammenhänge
Die blutige Fehde zwischen der drusischen Miliz des Drogenbarons Hikmat al-Hijri – so die Wortwahl des drusischen Würdenträgers al-Bal‘us – und einem beduinischen Verband um Schmuggel-, Wasser- und Weiderechte eskaliert. Al-Hijri wollte mitsamt seines Suwaida-Militärrats die Hegemonie im Drogengeschäft erringen und sichern. Er inszeniert die Fehde als drusisch-sunnitischen Ethnokrieg und nutzt dazu gezielt die israelische Militärhilfe. Dies mobilisiert Ressentiments in der breiten Bevölkerung, wodurch eine antagonistische Stimmung zwischen Drusen und Sunniten entsteht.
Al-Hijri, der ehedem gute Beziehungen zum Diktator al-Assad pflegte, scheut sich nicht, mit der Miliz al-Nujaba zusammenzuarbeiten, die dem Umfeld der Hisbullah entstammt. Dadurch gerät seine Unterstützung durch Israel in ein zweifelhaftes Licht. Salafistische Zeloten aus Damaskus nutzen dies aus und schüren eine gewaltträchtige Stimmung sowohl gegen Drusen als auch gegen das HTS-Regime. Der Konflikt in Syrien verweigert sich einer plakativen Deutung, die in ihm einen Völkermord an den Drusen sieht, und damit eine von vornherein zum Scheitern verurteilte Strategie der nationalreligiösen Regierung in Israel rechtfertigt, die eine Zerschlagung Syriens (Bezalel Smotrich am 29. April 2025) zum Ziel hat.
Bruchlinien auf beiden Seiten
Der Antagonismus zwischen drusischen Grossgruppen und beduinischen Bünden in Südsyrien reicht weit in die Herrschaftszeit des Assad-Regimes zurück. Er betrifft vornehmlich die umstrittene Hegemonie über den Drogen-, Captagon- und Waffenschmuggel sowie über die Landnutzung angesichts knapper werdender Wasserressourcen. Je nach Einbettung in diesen Hegemoniekonflikt verlaufen die Bruchlinien quer durch die drusische und die beduinische Gemeinschaft. Auf drusischer Seite hat der kurz nach dem Sturz Assads gegründete «Militärrat von Suwaida» unter dem drusischen Geistlichen Hikmat al-Hijri die Hoheit inne. In dessen Führungsgremium sitzen drei ehemalige Generäle des Assad-Regimes. Der Militärrat geniesst die Unterstützung Israels und kontrolliert den lokalen Drogenhandel. Beduinische Bünde, die den im Militärrat zusammengeschlossenen drusischen Familien die Hegemonie streitig machen, rechtfertigen ihren Macht- und Kontrollanspruch mit salafistisch verbrämter antidrusischer Propaganda. Inzwischen weiten die Antagonisten ihre Feindseligkeit auf die Gesamtheit der Drusen bzw. Beduinen aus.
Kaskade von gegenseitigen Entführungen
Anlass für den aktuellen Konflikt war ein Überfall bewaffneter Beduinen auf einen Gemüselaster auf der Strasse von Damaskus nach Suwaida am späten Abend des 11. Juli. Die Bewaffneten schlugen den Fahrer zusammen und raubten den LKW samt Ladung. Am nächsten Tag entführten drusische Bewaffnete als Vergeltungsmassnahme acht Beduinen. Daraufhin entführten Beduinen ihrerseits fünf Drusen, woraufhin der Konflikt in einer Kaskade von gegenseitigen Entführungen eskalierte.
Ein Versuch von Regierungstruppen, nach Suwaida vorzudringen, scheiterte in einem Blutbad. Daraufhin nahmen Milizen des drusischen Militärrats das Beduinenviertel al-Maqwas im Osten von Suwaida sowie beduinische Ansiedlungen im Osten von Daraa (ca. 45 km westlich von Suwaida) ins Visier.
Die israelische Seite reagierte zunächst mit Drohnenangriffen auf gepanzerte Fahrzeuge des syrischen Militärs und anschliessend auf Pick-up-Trucks der Einsatzkräfte des Damaszener Innenministeriums. Die Kämpfe der drei Parteien (drusischer Militärrat, beduinische Bünde und das Regime von Damaskus) sowie die israelischen Luftangriffe gingen am 14. Juli trotz laufender Verhandlungen unvermindert weiter. Drusische Dörfer wurden systematisch beschossen und Beduinengebiete eingekesselt und angegriffen. Dutzende Menschen kamen ums Leben. Gegen Mittag des 15. Juli verkündeten drei Anführer der Drusen, ein Vertreter der Christen und ein Vertreter des Zivilrats von Suwaida einen Waffenstillstand, um die Regierungstruppen zu schützen. Hikmat al-Hijri lehnte den Waffenstillstand jedoch ab und befahl die Fortsetzung der Kämpfe. Die israelischen Angriffe wurden wieder aufgenommen.
Hikmat al-Hijri boykottiert den zweiten Waffenstillstand
Als die syrischen Regierungstruppen in Suwaida erneut einmarschierten, wurden sie von drusischen Milizionären überfallen. Zehn Soldaten wurden hingerichtet, weitere als Geiseln genommen. Inzwischen erreichten die Kämpfe die Provinzhauptstadt selbst. Sie dauern bis heute (18. Juli) an. Dabei intensivierte Israel seine Angriffe, doch die syrischen Regierungstruppen rückten zunächst weiter vor. In der Folge griff Israel das syrische Verteidigungsministerium in Damaskus zweimal an. Es folgten weitere Angriffe auf das Zentrum von Damaskus (einschliesslich der Umgebung des Präsidentenpalasts) sowie auf mehrere syrische Militärstützpunkte.
Am Abend des 16. Juli wurde ein zweiter Waffenstillstand verkündet. Diesmal wurde der Rückzug der Verbände des Regimes aus Suwaida und die Übergabe der Macht in der Provinz an den bestehenden Zivilrat von Suwaida vereinbart. Hikmat al-Hijri kündigte jedoch zum zweiten Mal an, dass er das von allen anderen Drusen-Führern in Suwaida vereinbarte Waffenstillstandsabkommen ablehne, und rief seine Kämpfer dazu auf, den Kampf fortzusetzen. Parallel hierzu nahm Israel die Luftangriffe auf Stellungen der Armee und der Beduinen in Suwaida wieder auf.
Interne Zersplitterungen als Folge des Assad-Regimes
Inzwischen wächst die innerdrusische Kritik an al-Hijri, dem die Usurpation der Macht vorgeworfen wird. Zu seinen Kritikern zählen drusische Würdenträger, die eine Autonomie des Drusengebiets innerhalb Syriens anstreben und hierbei von der politischen Führung der drusischen Parteien im Libanon unterstützt werden.
Arabische Beobachter weisen darauf hin, dass das Zerwürfnis zwischen prosyrischen und separatistischen Drusengemeinden eine unmittelbare Folge der Gewaltherrschaft des Assad-Regimes ist. Hikmat al-Hijri stand dem Assad-Regime sehr nahe. Seine Verwandtschaftsbünde profitierten von Assads Protektion, die ihm den lukrativen Drogenschmuggel, insbesondere mit Captagon, ermöglichte. Nach dem Sturz Assads schuf al-Hijri dem Netzwerk der ihm loyalen Bünde eine militärische Exekutivmacht und nannte sie «Militärrat von Suwaida». Seine Gegner waren jene drusischen Familien und Bünde, die sich dem Widerstand gegen das Assad-Regime angeschlossen hatten. Ihre Sprecher sind Laith al-Bal’us, Sohn von Wahid al-Bal‘us, der vom Assad-Regime ermordet wurde, sowie Hammud al-Hinawi, der besonders in der drusischen Händlergemeinschaft Unterstützung findet. Yusuf al-Jarbu‘, der dritte geistliche Drusenführer, gilt als Figur des Ausgleichs und ist stets bemüht, auch al-Hijri zur Unterzeichnung des erneuerten Waffenstillstandsabkommens vom 17. Juli zu bewegen. Vierzehn beduinische Stammesbünde, die Landrechte in der Gegend von Daraa bis Suwaida reklamieren, haben ihrerseits einen «Militärrat der Stämme und Clans Syriens» geschaffen. Der Waffenschmuggel über die Grenze zu Jordanien hat zu einer massiven Aufrüstung der Kontrahenten geführt.
Negativer Domino-Effekt der israelischen Intervention
Der Konflikt hat inzwischen fast 400 Menschen das Leben gekostet. Die meisten Toten gab es auf Seiten des Militärs des Damaszener Regimes. Fast 60 drusische Zivilisten wurden Opfer pogromähnlicher Attacken beduinischer Nachbarschaften gegen drusische Wohnstätten. Die Entwicklungen im Süden Syriens sind Ausdruck eines dramatischen Kollapses der Gesellschaft und ihres Ordnungsgefüges. Das nationalreligiöse Regime der «Heilsregierung» in Damaskus verfolgt eine zentralistische Politik, die eine politische, föderale Repräsentation der kommunalen Vielfalt verhindert und somit eine Integration der Gesellschaft unmöglich macht. Das Scheitern der Gesellschaft wird unausweichlich zu einem Scheitern des Staates oder im Gegenzug zu einer voll ausgebildeten Staatsdiktatur führen.
Die israelische Interventionspolitik beschleunigt diesen Prozess, da sie einerseits die Grenzen zwischen den Gemeinschaften der Drusen und Beduinen vertieft und andererseits dazu beiträgt, die Drusen aus dem gesellschaftlichen Verbund in Südsyrien herauszulösen. Der Dominoeffekt wird nicht lange auf sich warten lassen. Die israelische Regierung wiederholt in Südsyrien jenen verheerenden strategischen Fehler, der schon 1982 im Libanonkrieg begangen wurde. Auch diesmal könnte dieser nicht nur zu einer dramatischen Verwicklung Israels in den syrischen Krieg führen, sondern auch die weitere Desintegration der syrischen Gesellschaft befördern. Und so, wie die israelische Intervention im Libanon 1982 erst die sozialen Voraussetzungen für den Machterfolg der im selben Jahr gegründeten Hisbullah schuf, droht die Intervention in Südsyrien dazu zu führen, dass Israel ein Antagonismus mit salafistischen Zeloten erwächst, den es mit seiner Intervention eigentlich verhindern wollte.