Will man unterwürfig sein oder selbstbewusst auftreten gegenüber den USA? Der Bundesrat lässt sich nicht in die Karten blicken. In den Medien kursieren teils absurde Ideen. Doch ein paar helle Köpfe machen sich interessante Gedanken: eine sehr schweizerische Debatte.
Zum Start eine historische Reminiszenz, die auf den ersten Blick wenig zu tun hat mit den gerade drohenden US-Zöllen von 39 Prozent. Im Mai und Juni 1940 erobert Hitlerdeutschland die Niederlande, das neutrale Belgien und Frankreich. Dabei kommt es zu dramatischen Luftkämpfen über dem Jura, bei denen mehrere deutsche von schweizerischen Jagdflugzeugen vom Himmel geholt werden. Eine wütende Demarche Berlins trifft bei Bundespräsident und Aussenminister Marcel Pilet-Golaz ein. Deutschland wertet die Vorfälle als «feindselige Akte, die von Seiten eines neutralen Staates beispiellos sind», und erwartet eine formelle Entschuldigung. Pilet-Golaz bietet eine gemeinsame Untersuchungskommission an, weil er überzeugt ist, dass die Deutschen Schweizer Staatsgebiet überflogen haben. Hitlerdeutschland lehnt das ab. «Das neutrale Ausland frisst uns aus der Hand», schreibt Propagandaminister Joseph Goebbels in sein Tagebuch, «bloss die Schweiz bleibt unentwegt frech.»
«Nichts, was gegen ihre Ehre verstösst»
Nach einem Gespräch mit Pilet-Golaz berichtet der deutsche Gesandte Otto Köcher nach Berlin, «dass wir von der Schweiz nichts verlangen könnten und dass die Schweiz nichts tun werde, was gegen ihre Ehre verstosse». Die Deutschen aber machen weiter Druck. Am 1. Juli 1940 tritt der Bundesrat ohne Protokollführer zusammen. Er fragt sich, ob Hitler gerade einen Vorwand sucht, um nach dem Sieg über Frankreich auch noch die Schweiz zu erobern. Die Regierung beschliesst, Deutschland «mit der Note Nummer 8 zu antworten». Es ist jene Fassung, die am allerwenigsten einer Entschuldigung gleichkommt. Zumal sie betont, dass die Schweizer Regierung auf ihren Erkenntnissen beharrt.
Die «Ehre der Schweiz»: Das scheint damals, in allerhöchster, nicht nur militärischer, sondern wegen der Abhängigkeit von Rohstoff- und Nahrungsmittel-Lieferungen aus Deutschland auch wirtschaftlicher Bedrängnis, doch eine feste Grösse der Politik gewesen zu sein. Und heute, da US-Präsident Donald Trump der Schweiz Zölle von stattlichen 39 Prozent verordnet hat? Da tritt subito mit alt Botschafter Thomas Borer ein Mann ins Rampenlicht, der nur eines will: nachgeben. Und da plädiert mit der SVP die Partei der angeblich so aufrechten Schweiz-Verteidiger (die gerade gegen den angeblichen «Unterwerfungsvertrag» mit der EU mobil macht) vor allem für eines: für Nachgeben.
Seltsame Ideen werden diskutiert
Während der Bundesrat berät, dann in einer Zweierdelegation nach Washington reist und seither weiter berät und verhandelt, kursieren in den Medien seltsame Ideen. Sollte man Fifa-Boss Gianni Infantino zu Trump schicken, um den mächtigen Mann zu bezirzen? Oder, noch kühner, dem Mann im Oval Office gleich die Fifa schenken? Erfolg oder Katastrophe: Das scheint vor allem eine Frage persönlicher Beziehungen zu sein, die anscheinend gestört oder eher inexistent sind. Hat Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter einen Fehler begangen, als sie einfach so angerufen hat bei Trump? Hätte sie wie die EU-Kommissionspräsidentin zu ihm nach Schottland reisen müssen, weil er beim Golfen bessere Laune hat? So, denkt man, wird es am Hof der römischen Kaiser zugegangen sein.
Man fragt sich, wo bleibt da die «Ehre der Schweiz»? Und wie steht es um die angeblich drohende Katastrophe für ihre Wirtschaft? «Die Schweiz ist Trump ausgeliefert», sagt der Basler Ökonom Aymo Brunetti in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zwar, fügt aber hinzu: «Bleibt es dabei, dann wird die Wirtschaft sich abkühlen. Aber eine Rezession halte ich für unwahrscheinlich.» Zumal der Zoll nicht die gesamte Exportwirtschaft treffe, sondern nur bestimmte Branchen, etwa die Uhren- und die Maschinenindustrie. Und die Pharmabranche, die aber bereits in den USA produziert. Den andern rät Brunetti, die Abhängigkeit von den USA zu reduzieren und neue Märkte zu suchen.
Denn auf diese US-Regierung ist kein Verlass. Wer hier investiert, tut es auf eigenes Risiko. Fachkräfte sind ebenfalls rar, und wer auf die Forschung setzt, sollte sich bewusst sein, dass Donald Trump gerade alles unternimmt, um seine Spitzenuniversitäten zu demontieren. Manch ein US-Forscher wird sich gerade anderweitig umsehen, in Kanada oder in Europa.
Der Frankenschock war heftiger
Aymo Brunetti, das ist eine nüchterne Stimme, der sich weitere anschliessen. Bis letzten Samstag die NZZ nüchtern Bilanz zieht unter der Affiche «Trumps Zollschock trifft die Schweizer Wirtschaft viel weniger als Corona oder die Finanzkrise». Auch der Frankenschock sei heftiger gewesen, habe aber, o Wunder, «die Gesamtwirtschaft kaum belastet». Eine im Juni erstellte Modellrechnung des Bundes im Anschluss an die erste Zollankündigung Trumps von damals 31 Prozent habe ergeben, dass das Schweizer Bruttoinlandsprodukt im dritten und vierten Quartal zurückgehen könnte, dass die Konjunktur dann aber wieder anziehen werde.
Fazit der NZZ: Forderungen nach Härtefallhilfen, wie sie da und dort bereits ertönen, seien «verfehlt»: «Um den Firmen die Anpassung zu erleichtern, genügen wohl die vom Bund geplanten Kurzarbeitsentschädigungen für 24 Monate.» Ja, der Ruf nach dem Staat erschallt rasch, wenn wirtschaftlich mal nicht alles so rund läuft. Dann suchen bei ihm auch Unternehmer Unterschlupf, die sonst das Hohelied der freien Wirtschaft singen. Und vergessen dabei, dass sich die Schweizer Wirtschaft gerade in Krisenzeiten oft selbst zu helfen gewusst hat.
Trump: «Wie ein sowjetischer Zentralplaner»
Allerdings: Die Schweiz ist klein, trotz ihrer florierenden Wirtschaft. Und, man kann es auch an der gerade sichtbaren Annäherung der USA an Russland sehen: Das internationale System löst sich unter den Hammerschlägen des US-Präsidenten gerade auf. Was keineswegs Zufall ist, wie der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel in der «Süddeutschen Zeitung» erklärt. Die USA besinnen sich auf ihre alte Tradition des Isolationismus, während China stärker werde. «Wir befinden uns in einer Zeit des hegemonialen Übergangs. In einer solchen Phase kehrt die Anarchie der Staatenwelt zurück.» Wenn die USA ihre im Schwinden begriffene wirtschaftliche Position durch protektionistische Massnahmen wie etwa Zollschranken behaupten wollten, dann «verlieren sie den Status als liberale Ordnungsmacht in der Welt».
An Ordnung aber muss ein kleines Land wie die Schweiz in besonderem Mass interessiert sein. Deshalb sollte sie, neben dem Zugang zu neuen Märkten, ihr Bündnis mit der EU stärken und militärisch enger mit der Nato zusammenarbeiten. Und, im Umgang mit Donald Trump, die «Ehre der Schweiz» im Auge behalten. Der verhalte sich «wie ein sowjetischer Zentralplaner», stellt der Ökonom Beat Kappeler in der NZZ fest. «Er weiss, was wo und zu welchem Preis produziert werden soll. Nach aller Erfahrung ist dies kostspielig, ineffizient und macht alle ärmer.» Ein spontan gewachsenes Welthandelssystem aus dem Kopf neu zu bauen sei zum Scheitern verurteilt, «besonders, wenn dieser Kopf die ökonomischen Gesetze nicht kennt». Und zum Beispiel nicht einberechnet habe, dass Produktion heute überall auf Lieferketten aufbaut. So dass Trumps Zölle gerade jenen vielen amerikanischen Firmen nicht helfen, deren Produktion zu einem erheblichen Teil auf zollbelasteten Importen aufbaut.
Den Spiess umdrehen?
Soll die Schweiz in die Offensive gehen, wie der Uhrenindustrielle Nick Hayek es fordert, und etwa Ausfuhrzölle auf Gold erheben? «Das ist seine Achillesferse», sagt Hayek im «Blick». «Die Schweiz muss sich endlich trauen, den Spiess umzudrehen.» Parlamentarisch scheint Bewegung in die Sache zu kommen. Schon im Juli hat der Zürcher FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann den Kauf des F-35-Kampfjets in Frage gestellt, jetzt fordert er den Bundesrat auf, bis Ende September mögliche Gegenmassnahmen auf die Strafzölle zu prüfen. Donald Trump habe bewiesen, dass er Verhandlungspartner erst dann respektiere, wenn sie eine gewisse Stärke zeigten.
Da ist sie doch noch, die «Ehre der Schweiz».