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Bregenzer Festspiele

Diese erstaunlichen Finnen

30. Juli 2025
Rolf App
Bregenzer Festspiele
Foto: Christian Lins/Bregenzer Festspiele

Eine archaisch-düstere Geschichte, ein enormer Männerchor und grosses Orchester: Das sind die Ingredienzien für «Kullervo», ein frühes Meisterwerk von Jean Sibelius. In Bregenz, wo es gerade aufgeführt wurde, steht diesen Sommer viel Finnisches auf dem Programm.

Die neue Intendantin der Bregenzer Festspiele ist Finnin, also hat sich Lilli Paasikivi gesagt: Bringe ich doch für meine erste Saison am Bodensee das eine oder andere aus meiner Heimat mit. Nicht auf die Seebühne natürlich, wo nur die schweren Opern-Supertanker genügend Publikum anzulocken vermögen. Das ist dieses Jahr, zum zweiten Mal, Carl Maria von Webers «Der Freischütz» (Inszenierung und Bühne: Philipp Stölzl), bevor es im kommenden Jahr mit Giuseppe Verdis «La traviata» (Regie: Damiano Michieletto, Bühne: Paolo Fantin) und 2028/29 mit Richard Wagners «Der fliegende Holländer» (Regie: Lydia Steier, Bühne: Es Devlin) weitergeht. Auch nicht drinnen im Festspielhaus, wo dieses Jahr George Enescus «Oedipe» und nächstes Jahr Leoš Janáčeks «Die Ausflüge des Herrn Brouček» als Opernraritäten wiederbelebt werden. 

Tanz und Gesang, Kantele und Tango

Es sind die Programmnischen, denen Lilli Paasikivi die reiche finnische Musikkultur anvertraut. Da war, zum Start, auf der Werkstattbühne Tero Saarinens Tanzstück «Borrowed Light», da ist, am selben Ort, in diesen Tagen «Study for Life» von Tero Saarinen und Kaija Saariaho. Da war «Waldeinsamkeit», ein Auftritt des YL Male Voice Choir – des ältesten und besten finnischen Männerchors in diesem an Männerchören beileibe nicht armen Land. Da waren, am 19. Juli, die «Songs for a (Mad) King» mit einer Komposition von Osmo Tapio Räihälä für Bariton und Kammerensemble. 

Da sind, in Ausweitung des Heimatbegriffs auf ganz Skandinavien, am 3. August im Seestudio «Im Sturm der Sehnsucht. Lieder aus dem Norden» mit der Sopranistin Hedvig Haugerud, und am 5. August im Kunsthaus Bregenz «Nordic Cool – Mythische Soundscapes mit Kantele und Saxophon» (Gesang und Kantele: Ida Elina, Saxophon: Jukka Perko). Und schliesslich ist da noch «Tango am See» am 11. August, worauf Lilli Paasikivi sich ganz besonders freut, weil der Tango im Sommer ebenso zu Finnland gehört wie die Nordlichter im Winter. Ein Abend mit dem Alakulo Ensemble, und mit Arja Koriseva, Tangokönigin 1989, und Johannes Vatjus, Tangokönig 2019. Und: Ein Abend zum Mittanzen vor der untergehenden Sonne, wenn man denn tanzen will.

Achtzig prachtvolle Stimmen

Ungefähr in der Mitte des Festspielkalenders findet sich jenes bemerkenswerte Sinfoniekonzert, das am vergangenen Sonntag über die Bühne des Festspielhauses gegangen ist. Mit dabei die gross besetzten Wiener Symphoniker, geleitet von Jukka-Pekka-Saraste. Weiter als Solisten die Sopranistin Marjukka Tepponen und der Bariton Ville Rusanen. Und ein grosser Männerchor, bestehend aus den Herren des von Pasi Hyökki geleiteten und bereits erwähnten YL Male Voice Choir, die verstärkt wurden um die Herren des Prager Philharmonischen Chors (Leitung Lukáš Kozubik) und des Bregenzer Festspielchors (Leitung Benjamin Lack) – achtzig prachtvolle Stimmen, die sich einem bei uns nahezu unbekannten Werk widmeten: Der Chorsinfonie «Kullervo» von Jean Sibelius, der mit diesem siebzigminütigen Werk im April 1892 mit einem «halsbrecherischen Sprung in die Zukunft» die Bühne seines Landes betrat, wie Sibelius’ Biograf Volker Tarnow erklärt.

Die Orchestermusiker, grossenteils Deutsche, konnten sich damals bei den Proben zwar «vor Lachen kaum halten angesichts einer Musik, deren Harmonik, Rhythmik und Brutalität ihnen eher abartig als neuartig erschien». Aber mitreissen liess sich das Publikum, und mitreissend klingt das fünfsätzige Werk auch heute noch. Mit einem wild bewegten, unheilvoll wabernden ersten Satz, der da und dort an Bruckner gemahnt, dessen Dritte Sinfonie Sibelius in Wien gehört hatte. Im zweiten Satz dann, der Kullervos Jugend schildert, wird mit einer schwermütigen Melodie jene Geschichte eröffnet, die dann im dritten Satz, einem halbstündigen Opernakt, endlich ins Wort drängt. 

Und damit zur Quelle des Ganzen: Kullervos Geschichte ist ein Teil des Kalevala, jener Sammlung von Sagen und Liedern, die der Sprachforscher Elias Lonnröt in den 1830er-Jahren in den entlegenen Gebieten Ostfinnlands zusammengetragen hatte. Damit hatte er die Grundlage für jenen finnischen Identitätsbildungsprozess gelegt, der im Verlauf des restlichen Jahrhunderts das Finnische gegenüber dem vorher dominanten Schwedischen massiv aufgewertet und damit die dann 1917 erreichte Unabhängigkeit im Kulturellen vorbereitet hatte. Die Russen, denen die Herrschaft über Finnland 1809 zugefallen war, hatten dem Neuzugang im Zarenreich eine Zeit lang Autonomie gewährt. Dann aber hatten sie unter den Zaren Alexander III. (1881–1894) und Nikolaus II. (1894–1917) ihre liberale Haltung revidiert. 

«Steige, Mädchen, in den Schlitten»

Dieser dritte Satz ist ein Abenteuer. Der Chor erzählt die Geschichte, die Solisten fallen in den dramatischsten Passagen ein: Kullervo, Kalervos Sohn, fährt mit seinem Schlitten übers Land, um die Steuern zu entrichten. Auf dem Weg zurück trifft er ein Mädchen, goldgelockt auf Schneeschuhen. «Steige, Mädchen, in den Schlitten, ruhe hier auf meinen Fellen», lockt er. Doch das Mädchen lehnt brüsk ab. Auch ein zweites Mädchen widersetzt sich dem schönen Jüngling mit seinen blauen Strümpfen. Ein drittes ist drauf und dran, ihm einen Korb zu geben, da reisst Kullervo die junge Frau hoch, öffnet seine Geldkiste, zeigt ihr schönes Silber und schmucke Tücher. Und «schnell entführt das Tuch die Sinne, ändert Gold des Mädchens Meinung. Silber bringt sie ins Verderben, Gold berücket ihre Einsicht».

Trotzig ist der Ton, aufgewühlt die Stimmung, rhythmisch hämmert die für unsere Ohren sehr, sehr fremde Sprache. Man spürt: In Finnlands Weiten bahnt ein menschliches Drama sich an. So kommt es auch. Die schöne Maid fragt Kullervo nach dem Beischlaf, aus welchem Stamm und Haus er komme. Er antwortet, er sei ein «Kind voll Unglück» und fragt zurück, woher sie stamme. Sie erzählt, sie sei ein «Kind von Verkehrtheit» – und Kalervos Tochter. Da ist klar: Kullervo hat gerade seine Schwester verführt. Eine dem Ödipus-Mythos verwandte Konstellation also, die dazu führt, dass Kullervo nach allerlei Kriegszügen (vierter Satz) im Schlusssatz – in dem zum letzten Mal der Chor zum Einsatz kommt – an den Ort des Geschehens zurückkehrt und sich dort in sein Schwert stürzt. 

Und zum Abschluss «Finlandia»

Jedes Volk hat seine Mythen und braucht sie auch. Denn wer seine kulturellen Tiefenschichten kennt, wird auch politisch selbstbewusster. Am Beispiel Finnlands lässt sich dies gut beobachten. Und Jukka-Pekka Saraste tut das Seine dazu, indem er, als Zugabe «Finlandia» dirigiert, jenes Stück, das Sibelius an der Wende zum 20. Jahrhundert komponiert hat, und das im Kampf gegen russische Pressionen zu einer «heimlichen Nationalhymne» avancierte. Und für dessen Mittelteil Veikko Antero Koskenniemi 1941 in einer Situation extremer Bedrohung durch die Sowjetunion jenen Text dichtete, den jetzt der YL Male Voice Choir anstimmt. Natürlich mit durchaus aktueller Absicht.

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