Die Waffenruhe in Gaza, falls sie hält, hinterlässt in Israel eine traumatisierte Gesellschaft und im Küstenstreifen ein Gebiet des Grauens, deren Menschen unvorstellbare Verluste erlitten haben. Israel begründet sein gewaltsames Vorgehen nach dem Massaker der Hamas mit einem überlebensnotwendigen Kampf gegen den Terror. Doch die Zahl der Toten, der zerstörten Häuser, Schulen und Spitäler spricht eine andere Sprache.
In Gaza sind auf der Küstenstrasse Zehntausende von Menschen zu Fuss in Richtung Norden unterwegs, nachdem seit dem letzten Freitagmittag, vom Weissen Haus vermittelt, die Waffen schweigen – nach zwei Jahren Krieg, der ein gigantisches Ausmass an Zerstörung und Verlust an Menschenleben angerichtet hat. «Es gibt viele Leute, die sich in Richtung Norden nach Gaza City bewegen und dort die Ruinen ihrer Häuser antreffen», sagt Olga Cherevko, Sprecherin des humanitären Büros der Uno (OCHA): «Folglich sind ihre Emotionen äusserst widersprüchlich.»
Unter anderem hat die israelische Armee (IDF) im Westen von Gaza-Stadt jüngst mehr als 14 Hochhäuser zerstört, welche der Hamas gemäss der IDF als Informationssammelstellen, als Standplätze für Kameras, Scharfschützen oder Anti-Panzer-Stellungen und in einigen Häusern als Beobachtungsposten sowie als Command-and Control-Zentren dienten. Gemäss der Uno ist es Israel untersagt, Eigentum zu zerstören, das es kontrolliert, es sei denn «für eine militärische Operation unbedingt nötig». Was sich im Fall von Hochhäusern mit ihren vielen Wohnungen, Büros und Restaurants jedoch zumindest anzweifeln lässt.
«Alles verloren»
Im Übrigen war Gaza City vor Kriegsbeginn dichter besiedelt als New York: Auf einer Fläche von rund 46 Quadratkilometern lebten 650’000 Menschen. «Es bricht mir das Herz, alles in Gaza zu verlieren», sagt die palästinensische Fernsehjournalistin Noor Harazeen, die im Al-Ghefari Tower, dem am 15. September zerstörten Hochhaus, arbeitete: «Dein Heim, deinen Arbeitsplatz, deine Lieben. Stell’ dir vor, das Gebäude, in dem du mehr als ein Jahrzehnt lang deine Karriere aufgebaut hast, vor deinen Augen kollabieren zu sehen.»
Was die Vertriebenen in der Stadt vorfinden, ist eine Trümmerwüste: Israels Luftangriffe und seine Taktik, Infrastruktur gezielt zu zerstören, haben Schätzungen zufolge 78 Prozent der 250’000 Gebäude beschädigt oder zerstört. Was 61 Millionen Tonnen Trümmer hinterlässt, von denen 15 Prozent mit Asbest, Industrieabfällen oder Schwermetall verseucht sein könnten. Die Weltbank schätzt, dass der Wiederaufbau Gazas 53 Milliarden Dollar kosten könnte. Ein Uno-Bericht ist im April zum Schluss gekommen, dass 105 Lastwagen 22 Jahre brauchen werden, um den ganzen Schutt aus dem Küstenstreifen abzutransportieren.
Hilfsorganisationen nehmen an, dass im Verlauf des Krieges 2,1 Millionen Menschen, d. h. 95 Prozent der Bevölkerung Gazas, aufgrund von Kriegshandlungen und Schäden vertrieben worden sind, viele unter ihnen wiederholt, im Extremfall über 20-mal. «Das ist ein traumatischer, gewalttätiger Prozess, der sich häufig wieder und wieder abgespielt hat», sagt James Elder, Sprecher der Unicef: «Es gibt Leute, die absolut alles verloren haben.» Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser leben heute in Zeltstädten und übervölkerten Schutzräumen mit mangelnder sanitarischer Infrastruktur und ohne Zugang zu sauberem Wasser.
Verräterische offizielle Rhetorik
Israel hat wiederholt betont, es nehme keine unbeteiligten Zivilisten ins Visier. Doch die Rhetorik seiner Politiker, welche die Leute in Gaza entmenschlicht und die kollektive Bestrafung Gazas gefordert hat, tönt anders. So sagte der damalige Verteidigungsminister Yoav Gallant im Oktober 2023, Israel kämpfe gegen «menschliche Tiere» und Gaza werde nie mehr sein, was es einmal war: «Wir werden alles eliminieren.»
Auch Finanzminister Bezalel Smotrich forderte letztes Jahr «die totale Vernichtung» Gazas: «Sie gehören zerstört, zerstört, zerstört.» Uno-Vertretern zufolge verraten solche Aussagen eine Absicht zum Völkermord – eine Einschätzung, die etliche internationale Forscher und Aktivisten teilen, Israel mit dem Verweis auf das Recht der Selbstverteidigung aber entschieden ablehnt.
Täglich 28 Kinder getötet
Die physische Zerstörung Gazas verblasst neben dem ungeheuren Verlust an Menschenleben. Seit dem 8. Oktober 2023 sind in Gaza mehr als 67’000 Menschen getötet und über 168’000 Personen verwundet worden, viele unter letzteren mit gravierenden Verletzungen, wie sie sonst eher bei Soldaten in intensivem Kampfeinsatz zu finden sind. Mindestens 20’000 der Toten sind Kinder: rund zwei Prozent der Kinderbevölkerung. Seit Kriegsbeginn sind im Schnitt täglich 28 Kinder getötet worden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass es in Gaza weltweit am meisten Kinder gibt, denen Gliedmassen haben amputiert werden müssen.
Schon vor dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 waren 80 Prozent der Bevölkerung Gazas auf internationale Nahrungshilfe angewiesen, auch wenn das Gebiet noch sein eigenes Gemüse, Eier, Milch, Geflügel und Fisch produzierte. Doch inzwischen sind fast alle Anbauflächen beschädigt oder unzugänglich, und in Teilen des Küstenstreifens herrscht Hungersnot, was Israels Regierung wiederholt verneint hat. Gefährlich auch israelische Munition, die nicht explodiert ist: Partner der NGO «Mine Action» haben seit Kriegsbeginn 132 Fälle von Explosionen dokumentiert, die 47 Menschen, unter ihnen 14 Kinder, töteten, und 249 Personen verletzten.
Viele Hungertote
Bis September dieses Jahres sind in Gaza mindestens 460 Menschen, unter ihnen 154 Kinder, an Hunger gestorben und Hunderte mehr sind getötet oder verwundet worden, während sie bei Verteilzentren der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) auf Lebensmittelhilfe warteten –, was die IDF und die GHF dementieren. Die israelische Armee teilt mit, sie habe lediglich Warnschüsse abgefeuert.
Die IDF bezweifelt auch die Zahlen der in Gaza getöteten Menschen, die das lokale, von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium publiziert hat. Gleichzeitig aber kommen internationale Analysten, Ärzte und Konfliktbeobachter zum Schluss, dass die wahre Zahl der Toten in Gaza wohl noch um einiges höher liegt, weil viele Opfer entweder noch unter Trümmern begraben oder an indirekten Folgen des Krieges wie Unterernährung, tödlichen Infektionen oder anderen medizinischen Befunden gestorben sind. Es ist die Rede von insgesamt über 100’000 Toten.
«Kein sanfter Krieg»
Im vergangenen September jedoch hat Israels früherer Armeekommandant Herzi Halevi selbst eingeräumt, dass seit Kriegsbeginn in Gaza mehr als 200’000 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet oder verwundet worden seien. Geleakte Daten des militärischen Nachrichtendienstes der IDF zeigen zudem, dass bis zum Mai 2025 mehr als 80 Prozent der Toten Zivilisten gewesen sind. «Das ist kein sanfter Krieg. Wir haben von der ersten Minute an die Handschuhe ausgezogen», sagte Halevi.
Währenddessen haben seit Oktober vor zwei Jahren 745’000 Schülerinnen und Schüler, einschliesslich 88’000 Studentinnen und Studenten, in Gaza nicht mehr zur Schule oder an die Universtätet gehen können. Dies, weil 90 Prozent der schulischen Infrastruktur zerstört worden oder in Schutzeinrichtungen umgewandelt worden sind, die nicht hätten attackiert werden dürfen.
Gesundheitssystem weitgehend zerstört
Gemäss dem lokalen Erziehungsministerium sind mehr als 700 Lehrerinnen und Lehrer im Krieg getötet worden. Noch 2022 hatte Gaza mit 98 Prozent laut Uno-Angaben eine der höchsten Bildungsraten der Welt – über dem weltweiten Durchschnitt und gleich hoch wie reichere Länder wie Singapur oder die Vereinigten Arabischen Emirate.
Vor dem Krieg hatte Gaza auch ein funktionierenden Gesundheitssystem, obwohl es der NGO Médecins Sans Frontières (MSF) zufolge schwierig war, medizinisches Gerät und Medikamente zu importieren. Inzwischen sind 94 Prozent der Spitäler beschädigt oder zerstört und mehr als 1’700 Angehörige des medizinischen Personals getötet und 1’411 Personen verwundet worden. Und Hunderte sind dem Gesundheitsministerium zufolge festgenommen worden. Experten der Uno haben das diesbezügliche Vorgehen der IDF als «gezielte Zerstörung des Gesundheitssystems» eingestuft.
Hoffnungslos überfüllte Spitäler
Medizinische Einrichtungen in Gaza, die noch halbwegs funktionieren, sind hoffnungslos überfüllt. Die amerikanische Chirurgin Kathleen Gallagher, die im Nasser Spital in Kahn Yunis tätig ist, hat berichtet, Patienten mit chronischen Erkrankungen litten stark unter verzögerter medizinischer Hilfe und verspäteten Verlegungen, während palästinensische Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal «erschöpft und emotional zerfetzt» seien. Dies, weil sie zum Teil auch selber vertrieben worden waren und jetzt in Zelten lebten. Israel begründet seine Attacke auf medizinische Einrichtungen mit dem Verweis auf Aktivitäten der Hamas an solchen Orten.
Die Hamas ihrerseits hat am 7. Oktober 2023 laut Angaben der IDF rund 1’200 Israelis, unter ihnen Frauen und Kinder, getötet und 251 Zivilisten sowie Soldaten als Geiseln nach Gaza verschleppt. Von den 48 Geiseln, die sich noch im Gebiet befinden, sollen 20 noch am Leben sein und Anfang Woche im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens freikommen, während die sterblichen Überreste der übrigen Verschleppten nach Israel überführt werden.
Seit Oktober vor zwei Jahren sind 915 israelische Soldatinnen und Soldaten sowie 70 Polizistinnen und Polizisten getötet worden, unter ihnen 468 Armeeangehörige während des Krieges in Gaza und bei Militäroperationen an der Grenze zum Küstenstreifen. 141 Personen oder 40 Prozent der Gefallenen waren jünger als 20 Jahre alt. Derweil haben im vergangenen Jahr 83’000 Israelis ihr Land verlassen, 50 Prozent mehr als im Jahr zuvor.
Das betroffene Kibbuz Nir Oz
Einer der Schauplätze des Massakers vor zwei Jahren war das Kibbuz Nir Oz in der Nähe der Grenze zu Gaza, wo die Hamas 117 Menschen tötete oder entführte. Von den 384 Bewohnerinnen und Bewohnern des Kibbuz sind inzwischen eine Handvoll zurückgekehrt. Sie sind nach wie vor traumatisiert und wissen noch nicht, ob und wie sie ihre Siedlung wiederaufbauen wollen. «Jede Unterhaltung endet mit dem 7. Oktober», sagt Ola Metzger, die erst vor kurzem mit ihrer Familie zurückkam. Ihr Schwiegervater ist von der Hamas entführt und im vergangenen Jahr in Khan Yunis getötet worden.
In Nir Oz lebt auch Yarden Bibas, der 484 Tage in Geiselhaft war, bevor er freigelassen wurde. Auch seine Frau Shiri und ihre neun Monate und fünf Jahre alten Kinder wurden aus dem Kibbuz nach Gaza entführt, wo alle drei getötet wurden. «Das Massaker des 7. Oktober und die Geiselnahme haben in Israel Holocaust-Assoziationen verstärkt und für viele Palästinenserinnen und Palästinenser ist der Krieg eine neue Nakba (die Vertreibung von 1948) gewesen», sagt Völkerrechtler Yuval Shany von der Hebrew University in Jerusalem: «So nähren sich beide Narrative gegenseitig in einer endlosen Schleife.»
«Israels zwei grösste Desaster»
«Haaretz»-Journalist Nir Hasson hat vor dem zweiten Jahrestag des Massakers der Hamas einen Artikel verfasst, in dem er berichtet, wie ein einzelner Satz ihm Hunderte hasserfüllter Leserreaktionen eintrug, den er nach dem ersten Waffenstillstand in Gaza Anfang 2024 geschrieben hatte. Er schrieb, nach all dem Leid, das er gesehen habe, teile er das Glück jener Menschen in Gaza, die überlebt hätten. Auch Hassons jüngster Beitrag, zu dem ihn Christiane Amanpour auf CNN befragt hat, dürfte etliches heftiges Feedback ausgelöst haben.
«Netanjahu und seine Versagerregierung sind für die zwei grössten Desaster der israelischen Geschichte verantwortlich: das Massaker des 7. Oktober und die israelische Antwort auf das Massaker des 7. Oktober», schreibt der Autor: «Beim ersten Desaster wurden rund 1’200 Menschen ermordet und getötet, wurden Frauen und Kinder entführt, wurden schreckliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Beim zweiten Desaster töteten wir Tausende von Zivilisten, verursachten wir den Tod von Geiseln, zerstörten wir einen ganzen Distrikt, initiierten wir Hungersnot und begingen wir zahllose Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.»
«Israels Fundament zerstört»
«Das erste Desaster», so Nir Hasson, «nährte ein Trauma, dessen Auswirkungen noch während Jahrzehnten zu spüren sein werden. Doch das zweite Desaster zerstörte das Fundament, auf welchem der Staat Israel gebaut ist: die internationale Legitimität, die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur arabischen Welt und die Solidarität innerhalb der israelischen Gemeinschaft.»
Der Verlust des internationalen Ansehens sei jedoch lediglich eine Randerscheinung des zweiten Desasters: «Die wirkliche Katastrophe ist der aktuelle Tod von Zehntausenden von Menschen – unter Trümmern begraben, von Soldaten erschossen, während sie auf Nahrung warteten, oder in Spitälern langsam an Hunger sterbend. (…) das unermessliche Leid, welches die Trauer, die Wunden, das Trauma begleitet. Und ganze Städte sind ausradiert und in Haufen von Trümmern und Staub verwandelt worden.»
Hoffen auf Rehabilitation
Es sei jedoch unmöglich, schreibt der «Haaretz»-Journalist, alles am 7. Oktober festmachen zu wollen. «Schliesslich hat jener Tag lediglich die Dämonen freigesetzt, die bereits vorher präsent waren, die während Jahrzehnten eines wachsenden Extremismus, des religiösen Eifers, der Entmenschlichung, des Chauvinismus und des Militarismus kultiviert worden waren. Es mangelte nicht an Warnzeichen: die Gleichgültigkeit gegenüber dem Terror der Siedler, die Gewalt der Armee und der Polizei gegen Palästinenserinnen und Palästinenser im Westjordanland und in Jerusalem, die Verlautbarungen von Ministern und Mitgliedern der Knesset, die nach europäischen Massstäben aus Tiefen des neonazistischen Fundus stammten.»
«Die beiden Desaster, die uns befallen haben, sind miteinander verknüpft», schliesst Nir Hasson: «In den Ohren der meisten Israelis wird das verrückt, sogar verräterisch klingen, aber das ist heute für mich klarer als je zuvor: Kibbuz Nir Oz und der Staat Israel werden nicht rehabilitiert werden, solange Gaza nicht rehabilitiert ist.»
Quellen: Haaretz, The New York Times, The Washington Post, The Guardian, CNN, ABC