Auf ihrer knapp siebzig Kilometer langen Reise aus den Voralpen der Innerschweiz mitten ins Zentrum von Zürich ändert die Sihl mehrmals ihr Gesicht. In einem ersten Bericht machen wir uns auf den Weg vom Zürcher Platzspitz bis nach Sihlbrugg.
Teil 1: Die arbeitsam Urbane
Es war anfangs der 1950er Jahre, als ich im Zürcher Hauptbahnhof erstmals bewusst das Rauschen von Wasser wahrgenommen hatte. Ich wartete mit meinem Vater auf den Zug nach Küsnacht, der damals noch nicht «Goldküstenexpress» hiess, dafür aber von Zürich via Meilen, Rapperswil, Ziegelbrücke und Glarus bis nach Linthal fuhr.
Es musste die Tage zuvor stark geregnet haben. Die Flüsse führten Hochwasser. Der Zug sollte auf Gleis 9 einfahren, welches aus Platzmangel ohne Perron zwischen die Gleise 8 und 10 hineingequetscht worden war, so dass die Passagiere beim Einsteigen entweder ein Nachbargleise zu überqueren hatten – falls eines frei war – oder sich vom Kopfende des Perrons einen Weg zwischen zwei nahe beieinander stehenden Zügen suchen mussten, was mit Gepäck nicht ganz einfach war. Es gab eine Stelle, wo man durch schmale Schlitze auf braunes Wasser schaute, das gefährlich schnell unter den Gleisen hindurchfloss. Das sei die Sihl, erklärte mein Vater, sie fliesse weiter unten in die Limmat.
Als wir später über das Lettenviadukt Richtung Stadelhofen fuhren, blickten wir auf eine zweifarbige Limmat hinunter: In Fliessrichtung rechts war das Wasser von dunkler Klarheit, während links eine gelbbraune Brühe tobte, welche mit ihren Wirbeln immer wieder ins klare Wasser hinübergriff, als wollte sie dieses vereinnahmen. Die unterschiedliche Färbung der beiden Flüsse könne man manchmal über viele Kilometer flussabwärts beobachten, sagte mein Vater. – Ob er damals ahnte, dass sich sein Sohn Jahrzehnte später für Gewässerphysik interessieren würde?
Mich beschäftigte damals allerding mehr die Frage, wieso man auf die bizarre Idee gekommen war, den Zürcher Bahnhof über einem Fluss zu bauen. Ich solle die alte Zürcher Karte von 1847 anschauen, meinte mein Vater, welche als Erbstück in unserer Familie gelandet war. Tatsächlich: Auf der Karte liegt der Bahnhof noch vollständig zwischen Sihl und Limmat. Erbaut hatte ihn die Schweizerische Nordbahn (SNB) für ihre erste Bahnlinie von Zürich nach Baden, die später den Übernahmen Spanisch-Brötli-Bahn erhielt. Ausserhalb des Bahnhofs führte eine zweigleisige Brücke westwärts über die Sihl in den sogenannten Vorbahnhof, wo sich alle technischen Anlagen befanden, welche für einen Bahnbetrieb nötig sind. Das galt auch für die 1871 eröffnete, in grossen Teilen bis heute erhaltene Bahnhofhalle, nach ihrem Erbauer Jakob Friedrich Wanner «Wannerbau» genannt. Zwar nahmen Breite und Anzahl Gleise auf der Sihlbrücke im Laufe der Zeit zu, aber es blieb bei einem klar als Brücke erkennbaren Bauwerk, welches Bahnhof und Vorbahnhof trennte.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Perrons Richtung Sihl verlängert; die Brücke wurde immer breiter, bis die Sihl schliesslich mit dem Bau der heute noch vorhandenen, dem Wannerbau vorgelagerten neuen Bahnhofshalle, in der ich vor über 70 Jahren mit meinem Vater der tosenden Sihl zugehört hatte, definitiv in den Untergrund verdrängt wurde. Seit der Inbetriebnahme der Zürcher S-Bahn (1990) existiert sie für die Reisenden kaum noch, weder akustisch noch visuell. Höchstens dass sich vielleicht ein an Architekturfragen Interessierter fragen mag, wieso das erste Untergeschoss, das zwischen dem Niveau der alten Hallengleise und demjenigen des Bahnhofs Museumsstrasse liegt, nicht ebenerdig mit der Unterführung zwischen Sihlquai und Kasernenstrasse verbunden ist. – Ganz einfach, die Sihl, eingesperrt in einer Betonrinne zwischen den beiden Ebenen, versperrt den Durchgang.
Um die vom stetig gewachsenen Gleisfeld bedrängte Sihl geht es hier. Wenige Meter nach der Unterquerung des Bahnhofes geht ihr Leben in demjenigen ihrer schönen, klarwässerigen Schwester, der Limmat, auf; ihr Name verschwindet von der Landkarte. Woher kommt es, das hässliche braune Entchen und was hat es uns über seinen Weg nach Zürich zu erzählen?
Machen wir uns auf den Weg und folgen dem verschlungenen Lauf der Sihl – wenigstens in Gedanken. 69 km warten auf uns vom Platzspitz, wo sie auf 402 m ü. M. in die Limmat mündet, bis zum Nordosthang des Drusberges im Kanton Schwyz, wo sie auf rund 1870 m ihren Anfang nimmt. Ihr durchschnittliches Gefälle beträgt somit 21‰ (21 m pro Kilometer), was ziemlich viel ist und den Fluss zu einem gefährlichen Hochwasserkandidaten macht. Doch davon später.
Gehen wir also an der alten Kaserne vorbei zur Sihlbrücke, Zürichs ältestem Sihlübergang, und weiter zur Stauffacherbrücke. Sie wurde 1899 nach Plänen von Robert Maillard errichtet. Ihre elegante Form und die vier Eckpfeiler mit den Löwen lassen vermuten, ihr Schöpfer hätte ein bisschen von der Seine und von Paris, dem Ursprung aller Revolutionen, geträumt. An der Sihl verlief einst nicht nur die Grenze der Stadt, sondern auch diejenige zwischen dem bürgerlichen Zürich und der Arbeitervorstadt «Aussersihl». In Kurt Guggenheims «Alles in Allem», einem der schönsten Romane über Zürich, erfahren wir, wie stark diese soziale und kulturelle Grenze bis ins 20. Jahrhundert hinein das Leben der Stadt geprägt hat.
Weiter geht’s auf der Sihlpromenade flussaufwärts. Der heute so gesittet in seinem begradigten Bett daher fliessende Fluss lässt uns den schlafenden Riesen vergessen, der, wacht er dann auf, seit jeher die Menschen entlang seines Laufes bis hinunter nach Zürich in Angst und Schrecken versetzt hat. Dann tobt die Sihl, als ob sie sich für all die Übergriffe rächen wollte, mit welchen man sie seit Jahrhunderten bedrängt, so beim Hauptbahnhof, den man ihr übergestülpt hat, bei den alten Fabrikkanälen im Sihltal, mit der man sie zur Arbeit zwang, und letztlich auch bei jenem See, den man vor hundert Jahren in der einstigen Ebene von Wilerzell aufgestaut hat, wo sich einst das Wasser in grossen, sich immer wieder verändernden Schlingen hat austoben können.
Doch davon später. Hinter einer Flussbiegung, wo am rechten Ufer zwischen den Bäumen die Therme von Zürich in der ehemaligen Brauerei Hürlimann auftaucht, kommt uns auf unzähligen dünnen Beinen im Fluss ein Ungeheuer entgegen. Jemand scheint ihm mit einem riesigen Schwert die Schnauze abgehauen zu haben. Beim Näherkommen entpuppt sich das Monster als das abrupte Ende einer Autobahnbrücke. Man fragt sich, welcher Held hier die Stadt vor grösserem Unheil bewahrt hat.
Die Suche nach dem Held dieser Geschichte würde uns zwar nicht ins Mittelalter, aber wenigstens ins Jahr 1955 zurückführen, als euphorische Planer erstmals von einem Expressstrassen-Ypsilon träumten, mit dem die späteren Nationalstrassen A1 und A3 mitten in der Stadt hätten verknotet werden sollen. Dazu bot sich die unverbaute Sihl als Einfallsachse geradezu an. Also begann man in der Brunau mit dem Bau der auf Stelzen im Fluss stehenden Sihlhochstrasse. Bis zum Sihlhölzli war man schon gekommen. Von dort hätte die Brücke dereinst über der Sihl bis zum HB und über ihn hinweg zum Letten und zum Milchbucktunnel führen sollen. Später schrumpften die Planungsträume; aus der Brücke wurde ein Tunnel. Anlässlich des Baus des unterirdischen Bahnhofs Museumstrasse baute man vorsorglich ein erstes Teilstück. Doch auch dieser Traum löste sich auf wie eine Nebelbank an der Sonne. Am 21. Februar 2024 strich schliesslich der Bundesrat auf Antrag des Zürcher Regierungsrates das Ypsilon aus dem Nationalstrassennetz. Letztlich war wohl der sich wandelnde Zeitgeist der Held der Geschichte. – Ironie der Geschichte: Aus dem Tunnelstück unter dem Bahnhof entstand ein Velotunnel; er wurde am 22. Mai 2025 feierlich eröffnet.
Noch immer haben wir Zürich nicht verlassen, werden Leserin und Leser mit Recht feststellen. Wenn der Autor so weiter fabuliert, wird er auch mit einem zweiten Beitrag den Ursprung der Sihl nie erreichen. – Da hilft wohl nur noch eine Drohne. Wir lassen sie in jenes zwischen Albis und Zimmerberg eingeklemmtes schmales Tal fliegen, wo sich dank der Wasserkraft im 19. und frühen 20. Jahrhundert zahlreiche Industriebetriebe angesiedelt haben. Die durch Fabrikkanäle veränderte Flusslandschaft erinnert an das Tösstal oder an das Tal der Linth im Kanton Glarus: Landschaften, die ihre Fabriken weitgehende verloren haben, sich im Umbau befinden und primär zu Wohn- und Schlafgemeinden geworden sind.
Südlich von Gattikon ist auch dieser Spuk vorbei. Dichter Wald säumt das schmale Tal. Gäbe es die grosszügig ausgebaute Strasse (die einstige Hauptverbindung zwischen Zürich und der Innerschweiz) und das Trassee der Sihltalbahn nicht, könnte man sich in den Vogesen oder im Schwarzwald wähnen. Die in der Zeit stehengebliebene Bahnstation Sihlwald erinnert daran, dass das bewaldete Tal für Zürich seit jeher wichtigster Holzlieferant gewesen ist. Auch für die Wasserversorgung der Stadt spielt es bis heute eine wichtige Rolle – allerdings weiter flussaufwärts, südlich von Sihlbrugg.
Doch halt, der Friede täuscht. Nördlich vom Rütiboden entdeckt unsere Drohne am Fluss eine riesige Baustelle. Am rechten Ufer, unterhalb des Geissaurains, ist längs des Flusses ein langer Betontrog zu erkennen, der in einen Tunnel mündet. Dieser Tunnel – er soll 2026 fertig sein und 175 Mio. Franken kosten – erinnert uns daran, dass die Sihl ein schlafender Riese ist. Ein Entlastungsstollen von der Sihl in den Zürichsee bei Thalwil soll dafür sorgen, dass künftig die Sihl in Zürich nie mehr als 300 m3/s Wasser führen wird. – Zum Vergleich: Der mittlere Abfluss beim Platzspitz beträgt lediglich 6,8 m3/s. – Die letzten Hochwässer (2005: 290 m3/s; 2024: 248 m3/s) konnten zwar gerade noch ohne Schaden durch die Stadt geleitet werden, aber aus früheren Aufzeichnungen weiss man, dass die Sihl durchaus auch mit mehr Wasser daherkommen kann. Das Schadenspotenzial solcher Situationen wird nur schon für die Stadt Zürich auf über 6 Milliarden Franken geschätzt.
Wer nun aber glaubt, Hochwassersituationen würden wegen des Stollens unterhalb von Langnau-Gattikon überhaupt nicht mehr zu beobachten sein, täuscht sich. Das Entlastungsbauwerk wird bewusst erst ab 250 m3/s in Funktion treten. Regelmässige Hochwässer sind für Flüsse wie die Sihl wichtig; ohne sie würde der Untergrund durch Ablagerungen von feinem Geschiebe zunehmend wasserundurchlässig, was die Speisung des Grundwassers unter dem Fluss verhindert.
Unterdessen ist unsere Drohne am stillgelegten Bahnhof Sihlbrugg vorbeigeflogen, wo die SBB-Linie Zürich–Zug zwischen Zimmerberg- und Albistunnel kurz aus dem Untergrund auftaucht, und hat den Verkehrskreisel beim Gasthaus Krone in Sihlbrugg erreicht. Von hier an flussaufwärts wird die Sihl definitiv zum geheimnisvollen Voralpen- oder gar zum Gebirgsgewässer, welches sich dem Blick des Menschen immer wieder entzieht. Auf der Strasse ist der Fluss nur noch an einzelnen Stellen, insbesondere an Brückenübergängen, zugänglich, viele Abschnitte sind nicht einmal durch einen Weg erschlossen.
Die eigenwillige und weitgehend unbekannte Sihl werden wir im nächsten Beitrag näher kennenlernen und dabei u. a. erfahren, dass in einem einsamen Haus an der Sihl anno 1493 ein gewisser Theophrastus Bombast von Hohenheim, bekannt unter dem Namen Paracelsus, das Licht der Welt erblickt hat. Lassen wir uns überraschen.