Direkt zum Inhalt
  • Politik
  • Kultur
  • Wirtschaft
  • Gesellschaft
  • Medien
  • Über uns
close
Was fliesst denn da? 25/01

Die Dünnern

13. Oktober 2025
Dieter Imboden
 Welschenrohr im Thal, Blick Richtung Gänsbrunnen
Welschenrohr im Thal, Blick Richtung Gänsbrunnen (Bilder: Dieter Imboden)

Wer vom Bahnhof Olten über die alte Holzbrücke in die Altstadt und weiter zur Schützenmatte geht, überquert einen breiten Betonkanal mit hohen Wänden, durch den ein Wässerchen der Aare zustrebt: die Dünnern. Ihr Zustand wirkt beelendend: Kein Pflänzchen will hier wachsen, kein Fisch schwimmen, kein Insekt über dem Wasser schweben.

Nach einem mehrmonatigen Unterbruch meldet sich Dieter Imboden mit einer neuen Beitragsserie zurück, in denen er über Schweizer Gewässer berichtet, über grössere und kleinere Bäche, Flüsse und Seen, über bekannte und weniger bekannte, schöne und solche, denen der Mensch Zwang angetan hat. Die in loser Folge erscheinenden Beiträge streben kein objektives Lexikonwissen an, sondern berichten über seine ganz persönlichen Begegnungen mit dem Wasser.

Dünnern
Die Dünnern bei der Schützenmatte in Olten, Blick Richtung Aare

Am 28. September 2025 hat der Souverän des Kantons Solothurn mit 54% Ja-Stimmen einen Verpflichtungskredit von 200 Mio. Franken für den Hochwasserschutz und die ökologische Aufwertung der Dünnern [1] gutgeheissen. Vor allem soll der Fluss mit dem Ausbau für das 100-jährige Hochwasser fit gemacht werden, also für ein Hochwasser, das im Mittel alle hundert Jahre vorkommt – sofern denn die Statistik der vergangen angesichts des Klimawandels für die Zukunft noch gültig ist. 

Zwar ist die Dünnern das längste, ganz im Kanton Solothurn verlaufende Fliessgewässer, aber ich bin sicher, dass ihr Ruf bisher kaum über die Kantonsgrenze gedrungen ist. Sie entspringt im Bezirk Thal, versteckt hinter dem Weissenstein, fliesst durch die Klus bei Balsthal, dem Jurafuss entlang ostwärts durch den Bezirk Gäu und mündet nach 36 km in Olten in die Aare. Dort habe ich vor ein paar Wochen die Dünnern erstmal bewusst wahrgenommen – als ein zwar sauberer, aber zwischen nackten Betonmauern eingesperrter Kanal – ein Anblick, der mich traurig stimmte, ebenso wie das Abstimmungsresultat vom September, wonach ausgerechnet die beiden direkt betroffenen Bezirke Thal und Gäu den Kredit mit über 60% Nein-Stimmen abgelehnt haben.

Dünnern
Mündung der Dünnern in die Aare und Blick auf die «Alte Brücke» von Olten

Meine Neugier ist geweckt. Ich möchte das Gewässer über seine Reise vom Jura durch das von Autobahnen und Industriearealen geprägte Gäu nach Olten befragen und erfahren, ob sich das Flüsschen wenigstens in seiner Jugend, in seinem Oberlauf also, ausleben darf, bevor es zum urbanen Dachkännel für den Abtransport des lästigen Regenwassers wird. Immerhin soll sich sein Name vom althochdeutschen ‘tuni’ (dröhnen) ableiten. Wo dröhnt die Dünnern heute? Und schliesslich möchte ich verstehen, wieso sich eine lokale Mehrheit gegen die Sanierungspläne gestellt hat. Ich mache mich auf den Weg ins Land der Dünnern – für einmal mit dem Auto, denn zu Fuss und mit dem ÖV wären die Distanzen zu gross.

Quelle
Die «Quelle» der Dünnern nördlich vom Käppelihof zwischen Welschenrohr und Gänsbrunnen
Spur
Die erste Spur der Dünnern: Ein 100 Meter langer Wiesenbach beim Wirtshof

Die Quelle der Dünnern liegt im «Thal»– so der Name dieser durch die Auffaltung des Juras entstandenen Geländefalte westlich von Balsthal – wenig unterhalb der Wasserscheide zwischen Welschenrohr (Einzugsgebiet der Aare) und Gänsbrunnen (Einzugsgebiet der Birs). Es handelt sich um ein prosaisches Betonrohr am Strassenrand beim Käppelihof. Aber der wirkliche Geburtsort der Dünnern liegt einige hundert Meter weiter westlich und talaufwärts. Mit Hilfe der detaillierten Karte von Swisstopo finde ich auf der anderen Strassenseite in einer Wiese beim Wirtshof ein knapp 100 Meter langes Wiesenbächlein – eher ein Rinnsal –, das am Strassenbord wieder verschwindet. Wahrscheinlich haben die Ingenieure anlässlich des Ausbaus der Staatsstrasse 30 Moutier–Balsthal der Geradlinigkeit ihrer Strasse zuliebe das noch junge Bächlein in ein Rohr geleitet, welches die Strasse diagonal unterquert und weiter unten im erwähnten Betonrohr wieder zutage tritt.

Als Gewässerpsychiater müsste man der Dünnern folglich ein erhebliches Geburtstrauma attestieren: Kaum hat sie das Licht der Welt erblickt, wird sie zurück ins Dunkle einer Röhre gestossen! Immerhin scheint das junge Bächlein von robuster Natur zu sein. Unterhalb des Käppelihof-Betonrohrs lässt es sich nicht mehr unter den Boden zwingen. Es fliesst, von Büschen und Bäumen gesäumt, in munteren Kurven an Welschenrohr vorbei dem Hammerrain zu, wo es wohl dank des grösseren Gefälles und der Enge des Tales seinem Namen, dem Dröhnen, gerecht zu werden hofft.

Also doch eine unbeschwerte Jugend? Allerdings nur kurz, denn unterhalb von Welschenrohr, im Hammerrain, ist Kinderarbeit angesagt. Hier standen einst, wie der Name sagt, sogenannte Hammerwerke, also durch Wasserkraft betriebene Schmieden, wo – wie weiter unten in der Klus von Balsthal – das lokal gewonnene Bohnerz verarbeitet wurde. Die topografischen und hydrologischen Bedingungen im 3 km langen Abschnitt zwischen Welschenrohr und der 120 m tiefer liegenden Ebene von Herbetswil waren für unsere Vorfahren, die noch nicht über Elektrizität und fossile Brennstoffe verfügten, zur Nutzung der Wasserkraft ideal, umso mehr, als dass das Thal von dort bis zur Klus von Balsthal nur noch wenig Gefälle aufweist.

Hammerrain
Die Dünnern im Hammerrain bei der Einmündung der Wolfsschlucht zwischen Welschenrohr und Herbetswil

Doch halt, noch sind wir in Welschenrohr. Es ist Mittagszeit, der «Dünnern-Forscher» verspürt Hunger. Links entdecke ich eine Art Laden, an dessen Schaufenster «Katharinas Brot&Desserthaus» steht. Einige parkierte Autos sind ein gutes Zeichen für das Lokal. Die Tür führt in einen kleinen Essraum, in dem vier Personen um einen runden Tisch sitzen. Aufgrund ihrer Arbeitskleidung tippe ich auf Maler. An einem anderen Tisch sitzen zwei Frauen, welche Schürzen mit der Aufschrift «Katharinas Brot&Desserthaus» tragen. Bin ich in ein privates Lokal geraten? «Nein», antwortet der Wortführer auf meine verlegene Frage, es gäbe hier zu essen, aber nur ein einziges Menu, ich müsse es nebenan im Laden bestellen. Tatsächlich, für weniger als 15 Franken erhalte ich – in Blitzesschnelle – einen Salat, danach Rindsgulasch, Spätzli und Rotkohl. 

Während ich esse, wird am Nebentisch das Neuste aus Thal besprochen. Es geht, wie ich höre, auch wenn ich kein Lauscher sein will, um Leute aus der Gegend. Die Dünnern scheint hingegen kein – nicht mehr? – Thema zu sein. Nachdem die Maler zurück an ihre Arbeit gegangen sind, spreche ich bei der Chefin die Abstimmung über das Dünnern-Projekt an. Sie könne sich das Resultat des Bezirks auch nicht erklären. Viel diskutiert werde das Thema ohnehin nicht. Hochwasser sei hier nie ein Thema gewesen, die Dünnern sei ja hier noch jung und hätte auch bei starkem Regen das Wasser mühelos durch den Hammerrain talabwärts geschickt. Dass es weiter unten, in der äusseren Klus und im Gäu, zu Überschwemmungen gekommen sei, habe man zwar gewusst, aber betroffen sei man kaum gewesen. Und die ökologische Aufwertung? – Kein Thema, schliesslich sei das Wasser im Vergleich zu früher viel sauberer – dank der vielen Kläranlagen entlang des Flusses.

Nach dem Mittagshalt fahre ich weiter talabwärts. Im Hammerrain, wo von rechts die Wolfsschlucht einmündet, halte ich an, fotografiere die hier muntere Dünnern und vergesse dann im Aufstieg zwischen den über 100 Meter hohen Felswänden für eine Stunde meinen Schützling – aber das wäre ein anderes Thema. 

Weiterfahrt Richtung Herbetswil: Das Flüsschen hat im Hammerrain ein Stück Unbeschwertheit bewahrt; an die diversen Hammerwerke erinnern nur noch die Flurnamen. Doch in der Ebene von Herbetswil und bis hinunter nach Balsthal hat man, wie ich der alten Siegfriedkarte entnehme, anfangs des 20. Jahrhundert den einst durch das Tal mäandrierenden Fluss in ein geradliniges Normbett mit steil gemauerter Böschung gezwungen.

Dünnern
Die Dünnern bei Herbetswil - Von Dietrich Michael Weidmann – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=13312541

In der Klus von Balsthal vereinigt sich die Dünnern mit dem vom Oberen Hauenstein kommenden Augstbach, dem grössten Zufluss der Dünnern. Die Hammermühlen in der Klus, welche den Grundstein für den anfangs des 19. Jahrhunderts von Ludwig von Roll gebauten Hochofens und später der Giesserei legten, machten hier die Dünnern wieder zur Schwerarbeiterin. 

Bei Oensingen verlässt die Dünnern den Jura und fliesst ostwärts durch das Gäu Olten zu. Hier durfte sie sich einst von ihren Strapazen im Jura erholen und die weite Ebene, die kaum ein Gefälle aufweist, in munteren Schleifen für sich beanspruchen. In voreiszeitlicher Zeit floss hier einst die Aare. Das Geschiebe, welches sich als Folge der verschiedenen Gletschervorstösse entlang des südlichen Jurafusses abgelagert hatte, zwang die Aare, sich einen neuen Weg weiter südlich, bei Wangen an der Aare und Aarwangen, zu suchen. Zurück blieb eine für die kleine Dünnern fast zu weite Fläche. Sie erfreute im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur den kleinen Fluss, sondern auch den «homo faber», zuerst die Eisenbahn-, später die Autobahnbauer. Die Gäubahn Olten-Solothurn (eröffnet 1876) sowie die Autobahnen A1 und A2 mit der unübersehbaren Verzweigung Egerkingen (erbaut zwischen 1960 und 1970) machten das Gäu wegen seiner guten Erschliessung attraktiv für viele Unternehmungen. 

Hägendorf
Die Dünnern im Gäu bei Hägendorf: kein ökologisches Paradies

Im Gäu entstand im Laufe der letzten fünfzig Jahren ein riesiger Industriepark. Allerdings erhöhte sich als Folge der wachsenden Versiegelung des Bodens die Hochwassergefahr signifikant. Doch schon vorher wurden der Dünnern ihre fröhlichen Kapriolen ausgetrieben. Zwischen 1933 und 1944 baute man ein vollständig neues, gradliniges Bett mit fester Sohle und ökologiefeindlicher Böschung. Damals wurde beispielsweise das Flüsschen aus dem Dorfbild von Oensingen verbannt und – wie die heutige Umfahrungsstrasse – in einer grossen Schlaufe südlich um das Dorf geführt.

Olten-Hammer
Die Dünnern bei Olten-Hammer ist zum teils unterirdischen Fabrikkanal degradiert. Hier sollten bei Hochwasser bis 160 m3/s Wasser abgeführt werden.

Um den Hochwasserschutz geht es auch beim jüngsten Projekt, über das im September dieses Jahres abgestimmt worden war. Unter Hochwasser leidet insbesondere auch der letzte Lebensabschnitt der arbeitsamen Dünnern. In der kurzen Gefällstrecke bei Olten-Hammer lag – wie der Name sagt – der dritte Nutzungsschwerpunkt der Dünnern. Erst dort verwandelte sich der Fluss in jenen seelenlosen Kanal, der am Anfang meines Interesses stand. Ein paar Zahlen illustrieren die Grösse des Problems: Der mittlere Abfluss der Dünnern bei Olten-Hammer lag während der letzten 40 Jahre bei etwas über 5 Kubikmeter pro Sekunde (m3/s). Der bisher grösste Abfluss von 115 m3/s wurde im Jahr 1978 gemessen. Das eben beschlossene Sanierungsprojekt geht von einem 100-jährigen Hochwasser von 140 m3/s bei Oensingen und 160 m3/s bei Olten-Hammer aus. Zum Vergleich: Der Abfluss der Limmat aus dem Zürichsee beträgt typischerweise 70 bis 85 m3/s, derjenige der Reuss bei Luzern 110-140 m3/s.

Dünnern
Die Dünnern bei Hochwasser (nicht das maximale!) bei der Schützenmatte in Olten unmittelbar vor der Mündung in die Aare. Von der knapp überfluteten Brücke im Hintergrund wurde Bild 3 aufgenommen. Bild aus Informationsbroschüre der Stadt Olten, https://www.olten.ch/aktuellesinformationen/1862110

Und damit sind wir zurück bei der Ausgangsfrage: Wieso haben die betroffenen Bezirke das Sanierungsprojekt der Dünnern abgelehnt? – Nach der eher vagen Auskunft in Welschenrohr habe ich die Medien studiert und folgende Argumente gegen die Vorlage gefunden: Natürlich die üblichen, nämlich: zu hohe Kosten, zu lange Bauzeit, Verlust von landwirtschaftlicher Fläche. Nachdenklich hat mich aber das Argument der Gegner gemacht, der Hochwasserschutz sei einzig auf die Erhöhung des Abflusspotenzials des Flussbettes ausgerichtet, man würde die Verbesserung des Rückhaltes im Einzugsgebiet durch Renaturalisierung und Planung von kontrollierten Überflutungsflächen zu wenig stark berücksichtigen. Interessant auch ist eine Informationsbroschüre der Stadt Olten [2], welche – mit Recht – befürchtet, die Dünnern würde auf dem letzten Kilometer vor der Aare noch stärker als bisher zum seelenlosen Betonkanal werden.

Und was sagt der Fluss selbst dazu? – Offenbar blieb er während des Abstimmungskampfes stumm, aber ich bin sicher, er wird sich irgendwann wieder melden, mit Dröhnen und Getöse, wie er es seinem Namen schuldig ist. Der Mensch wird dann für einen Augenblick stutzig werden und danach die Botschaft wieder verdrängen.

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/D%C3%BCnnern

[2] https://www.olten.ch/aktuellesinformationen/1862110

Letzte Artikel

Der Papst und der Patriarch von Istanbul in Nizäa – Nur der Kaiser fehlte

Erwin Koller 4. Dezember 2025

EU berechenbarer als USA

Martin Gollmer 4. Dezember 2025

Dröhnendes Schweigen um Venezuela

Erich Gysling 1. Dezember 2025

Spiegel der Gesellschaft im Wandel

Werner Seitz 1. Dezember 2025

Bücher zu Weihnachten

1. Dezember 2025

Nichts Dringlicheres als die Rente?

Stephan Wehowsky 1. Dezember 2025

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Zurück zur Startseite
Leserbrief schreiben
Journal 21 Logo

Journal 21
Journalistischer Mehrwert

  • Kontakt
  • Datenschutz
  • Impressum
  • Newsletter
To top

© Journal21, 2021. Alle Rechte vorbehalten. Erstellt mit PRIMER - powered by Drupal.