Nach Berlin nun also Zürich: Am Opernhaus Zürich bekommt die weltberühmte, aber politisch seit dem russischen Angriff gegen die Ukraine auch hochumstrittene Sängerin Anna Netrebko einen Auftritt in Verdis «La forza del destino». Ein Engagement, das Fragen aufwirft.
Andrey Gurkov hat Anna Netrebko in New York in Donizettis «Don Pasquale» erlebt – und war begeistert. «Jahre später habe ich sie dann auf jenem Bild gesehen – und war entgeistert.» So beschreibt Gurkov, seit Jahrzehnten in Deutschland arbeitender Journalist mit starken Verbindungen zu Russland, in seinem kürzlich erschienen Buch «Für Russland ist Europa der Feind» die Entzauberung jener Sängerin, die jetzt im Opernhaus Zürich ihr vermutlich glanzvolles Comeback feiern wird.
Gurkov meint dabei mit «jenem Bild» nicht eines der zahlreichen Fotos, auf denen Netrebko mit Wladimir Putin zu sehen ist. Denn: «Man kann einer russischen Künstlerin nicht vorwerfen, dass sie in den fernen 2000er-Jahren vom Staatsoberhaupt der Russischen Föderation zuerst den Staatspreis und dann den Titel ‘Volkskünstlerin’ in Empfang nahm.» Auch die Tatsache, dass sie 2012, also zwei Jahre vor der Eroberung der Krim, als sogenannte Vertrauensperson Putin bei seiner Wiederwahl unterstützte, wiege nicht schwer genug, um sie heute zu boykottieren. Denn das hätten damals 499 prominente Persönlichkeiten getan. Unter ihnen die gefeierte Theater- und Filmschauspielerin Tschulpan Chamatowa. Die dann allerdings 2022 den russischen Grossangriff auf die Ukraine sofort verurteilt habe und demonstrativ nach Riga ins Exil gegangen sei, wo sie auch bei einer Antikriegskundgebung aufgetreten sei.
Eine Million Rubel für Donezk
Anna Netrebko sei nicht auf Protestkundgebungen aufgetreten, «doch auch das ist noch kein Grund, eine Absage ihrer Auftritte zu fordern». Sehr wohl aber «jenes Foto», das, so Gurkov, am 7. Dezember 2014 in Sankt Petersburg aufgenommen worden sei. «Anna Netrebko hatte damals eine Million Rubel (umgerechnet etwa 15’000 Euro) für das Opern- und Balletttheater in der ukrainischen Stadt Donezk gespendet, die sich bereits mehr als ein halbes Jahr unter der Kontrolle militanter prorussischer Separatisten befand. Bei der Pressekonferenz aus Anlass der Übergabe der Spende liess sich die Sängerin an der Seite eines der Rebellenführer, des von der EU sanktionierten Oleg Zarjow, und mit der Fahne ‘Neurusslands’ in der Hand fotografieren.»
Es war «eine Fahne der russischen Invasion, eine Fahne der angestrebten Invasion ukrainischer Gebiete, eine Fahne des bereits laufenden Krieges, die die Operndiva da hochhielt. Sie war damit die Einzige unter den russischen Weltstars, die so etwas tat», fasst Andrej Gurkov die politische Bedeutung der Szene zusammen. Selbst der Stardirigent Valeri Gergiev, ein langjähriger Günstling und Unterstützer Putins, habe sich mit derlei Sympathiebekundungen zurückgehalten.
Ihr sei die Bedeutung der Flagge nicht bekannt gewesen, erklärte Netrebko später (obwohl Zarjow darauf in einem russischen Radiosender erklärte, die Absprachen über den detaillierten Ablauf der Veranstaltung hätten zwei Wochen gedauert). Da sei ein Mann gewesen, den sie nicht gekannt habe, sie habe nicht gewusst, was man ihr da in die Hand gedrückt habe, sagte sie im Interview mit der «Zeit». «Im allerersten Moment dachte ich, es sei ein Tuch oder eine Art Schal!» Andrej Gurkovs Kommentar dazu: «Wie gross ‘der Schal’ im Endeffekt war, kann man sich im Internet anschauen.» Ein Schlaglicht auf die Ansichten des Stars werfe auch ein anderes Foto, allerdings wohl älteren Datums, auf dem sie ein T-Shirt mit der russischen Aufschrift «Na Berlin!» trage – «Nach Berlin!» war die Devise jener russischen Truppen, die im Frühjahr 1945 Berlin eroberten.
«Wie eine grosse Dummheit»
Ob Anna Netrebko solche Episoden meinte, als sie sich im März 2022 über ihren Medienanwalt Christian Schertz zum ersten und bisher einzigen Mal offiziell zum Krieg in der Ukraine äusserte? Jene kurze Stellungnahme verurteilt den Krieg, ohne dessen Verursacher zu nennen. Sie sei «weder Mitglied einer politischen Partei noch bin ich mit irgendeinem Führer Russlands verbunden», erklärt Netrebko. Sie bedauere, dass ihre Handlungen oder Aussagen in der Vergangenheit «zum Teil falsch interpretiert werden konnten». Und im Übrigen strebe sie mit ihrer Kunst «ausschliesslich Frieden und Einigkeit» an.
Mehr ist es nicht, was sie zu sagen hat – während andere russische Künstler wie der Pianist Jewgeni Kissin oder die Dirigenten Kirill Petrenko und Semyon Bychkow von Anfang an vehement Opposition gegen den russischen Angriffskrieg gemacht und die Ukraine unterstützt haben. In Zürich hatte man Vorstellungen mit ihr noch 2022 abgesagt hatte mit der Begründung, ihre Haltung sei mit jener des Opernhauses «nicht kompatibel». Doch jetzt, da Anna Netrebkos Auftritt am Opernhaus Zürich in Giuseppe Verdis «La forza del destino» ansteht, ist es dessen neuer Intendant Matthias Schulz, der sie verteidigt. Schulz hat sie schon an die Berliner Staatsoper unter den Linden geholt, wo sie dann, vor der Premiere, auf Instagram mit der Maschinenpistole in der Hand posiert und sich prompt einen Shitstorm eingehandelt hat.
Schulz sagt in der NZZ, das Engagement Netrebkos sei zuallererst eine künstlerische Entscheidung; bei der politischen Beurteilung seien «zu viele unbewiesene Behauptungen, Gerüchte und auch böswillige Unterstellungen im Spiel». Für ihn sei entscheidend, «dass man Künstler nicht als Sündenböcke benutzt». Angesprochen auf die Episode mit der «Neurussland»-Fahne sagt Schulz, er nehme Anna Netrebko ihre Erklärung ab, dass ihr die Person und die politische Rolle Zarjows nicht bekannt gewesen seien. Von heute her gesehen wirke das natürlich «wie eine grosse Dummheit».
Diese sehr milde Beurteilung wird nicht überall geteilt. Die New Yorker Metropolitan Opera, lange der Fixpunkt von Anna Netrebkos Karriere, hat ihr Engagement beendet, was zu einem anhaltenden Rechtsstreit geführt und das Opernhaus viel Geld gekostet hat. «Netrebko ist eine Marke des Kremls. Ihre Stimme öffnet Herzen, und genau das macht sie so gefährlich. Sie steht für das, was man ‘Soft Power’ nennt: Kultur, die Gewalt weisswäscht.» Das sagt gegenüber dem «Tages-Anzeiger» die ukrainische Botschafterin Iryna Wenediktowa. «Die Menschen kaufen Tickets, sie applaudieren, sie geniessen die Musik – und sie vergessen, dass dieselbe Person mit der Flagge eines Regimes posiert hat, das Kinder deportiert, Städte zerstört und Menschen tötet.»
Das Honorar spenden für die Ukraine?
Wäre es Anna Netrebko Ernst gewesen mit ihrer Kritik am Krieg, dann, so Wenediktowa, «hätte sie sich aktiv für die Opfer einsetzen können. Sie hat nie Putin kritisiert, sie hat nie die Ukraine als Opfer des Angriffs unterstützt. Das ist keine glaubwürdige Distanzierung». In eine ähnliche Richtung geht eine Stellungnahme des an der Universität Zürich forschenden Slawisten Roman Horbyk, der sich aber in einer Art Vermittlung versucht. In Netrebkos eigenen Darstellungen falle auf, dass sie passiv bleibe, schreibt er in der NZZ. «Sie habe nichts gewusst, nichts verstanden, man habe ihr einfach die Fahne gereicht.» Diese Passivität aber «passt nicht zu einer Künstlerin, die ihre Karriere so zielstrebig aufgebaut hat». Dennoch, so Horbyk, sollte man Netrebko «den Zweifel zugutehalten. Um zu beweisen, dass sie wirklich gegen den Krieg steht, wäre es nur folgerichtig, ihre gesamten Zürcher Gagen ukrainischen Vertriebenen zu spenden. Werden Frau Netrebko und Herr Schulz diese Herausforderung annehmen?»
Andrey Gurkov: Für Russland ist Europa der Feind. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 282 Seiten