Der Orientierungslauf gehört zu den stillen Sportarten, ein Freizeitvergnügen ohne Rummel und mediales Interesse. Er verweist auf das Unverfügbare im Leben. Gedanken zum Wert dieses Sports jenseits der konkreten Postensuche.
Früh hat es mich gepackt, das Laufen und Rennen und das Orientieren am nächsten Zielpunkt: Bei den Pfadfindern und im Unterricht von Jugend+Sport habe ich diese spätere Steckenpferd kennengelernt. Karte und Kompass sind seine Utensilien, Wälder das bevorzugte Stadion. Heute ist auch bewohntes Gebiet zur Orientierungslauf-Arena geworden.
Das OL-Virus liess mich nicht mehr los: Routen planen, Wege finden, Gräben queren, Hindernisse bewältigen, Dickichten ausweichen, sich an Bachläufen auffangen und immer das Ziel vor Augen, den nächsten Kontrollposten – und natürlich den optimalen Laufweg dorthin. Gute Schuhe und schnelle Beine allein genügen nicht; der Blick zielt nach vorne, richtet sich auf die übernächste Geländekammer und orientiert sich am Ziel – dies alles unter Belastung. Darin liegt die Faszination des OL-Sports. Es ist das Konkrete im Gelände, das Abstrakte auf der Karte und das Überwinden physischer wie mentaler Barrieren. Eine Lehre fürs Leben.
Der OL als Schulung des Kontingenzbewusstseins
Der OL-Sport spielte in meinen jungen Jahren eine wichtige Rolle – als intensive Begleitmelodie meines Lern- und Lebensweges. Bald einmal entdeckte ich: Der OL hat auch eine metaphorische Seite, eine Bedeutungsebene jenseits des körperlich Erlebbaren, jenseits von Schrammen und Schweiss, jenseits von Brombeerstauden und blutigen Bobos.
Wer wettkampfmässig einen Orientierungslauf bestreitet und sich bei der Routenwahl nicht einfach an sichern Waldwegen und an Leitlinien orientiert, der weiss: Trotz Karte und Kompass zählt zum OL das Ungewisse, gehört das Unverfügbare wie Dickicht und Tümpel dazu, rechnet sich das Zufällige. Denn die gewählte Laufstrecke könnte meist auch eine andere sein: Darin liegt das Kontingente dieses Sports, und darin verbirgt sich sein Faszinosum.
Es ist die Spannung zwischen Machbarem und Unsicherem, zwischen der Offenheit der Aufgabe und der Ungewissheit des Geländes, zwischen dem getroffenen Routenentscheid und dem konkreten Weg: der OL als Metapher fürs Nicht-Lineare des Lebens, fürs Wirken im offenen und komplexen Raum des beruflichen und privaten Alltags; der OL als Symbol für den Mikrokosmos der menschlichen Existenz, der «Condition humaine».
Das Ungewisse läuft mit
Und noch etwas hat mir der OL-Sport ins Leben mitgegeben: Entscheiden heisst verzichten. Konkret: Wenn ich den linken Weg wähle, muss ich den rechten liegen lassen – und gleichzeitig die Fähigkeit haben, das zu ertragen und auszuhalten. Zögern und Zaudern, Zurückblicken und Sich-Ärgern sind vergebene Liebesmüh. Sie kosten Zeit und Energie. Das Leben kann ich nach hinten verstehen, leben muss ich es nach vorne. Und zu diesem Leben zählen eben auch das Kontingente, das Ungewisse und das Unverfügbare.[1]
Die Spannkraft fürs Mögliche und Machbare gewinnen
Das hat mich der OL gelehrt, und das hat mir auch im pädagogischen Beruf als Lehrer und Schulleiter geholfen: Diese drei Eckwerte gehören konstitutiv zum Schulalltag; sie machen das Bermudadreieck des Unterrichts aus. Pädagogisches Handeln ist in hohem Grad von Ungewissheiten und Ambiguitäten geprägt.
Jede erfahrene Lehrerin kennt die Aspekte des Unplanbaren, jeder praxiserprobte Lehrer weiss um die Unsicherheit der Lernprozesse und der Lernergebnisse. Ungewissheit gehört zu ihrer Tätigkeit wie das Amen in der Kirche. Diese Spannung gehört zum (pädagogischen) Alltag und macht ihn spannend. Und diese Spannung kann ich nicht auflösen; ich kann sie nur aushalten und daraus die Spannkraft fürs Mögliche und Machbare generieren.
Die Ungewissheit als dynamisches Element
Jede OL-Läuferin, jeder OL-Wettkämpfer erlebt auf der Route zum nächsten Posten dieses Unsichere und Ungewisse, dieses Offene und Unvorhersehbare. Das Kontingente läuft sozusagen mit. «Ach, hätte ich doch!» Es ist die stete Frage: «Warum habe ich nur …? Und hätte ich nicht eine andere Strecke wählen und gegenteilig entscheiden sollen?» Diese Ungewissheit ist kein Defizit; sie gehört zum Gelingen. Jeder OL-Crack nimmt sie als dynamisches Element seines Sports an.
Das gilt auch fürs menschliche Leben. Der OL hat es mich gelehrt. Darin liegt das Wertvolle dieses Sports. Es liegt im Unsichtbaren und Metaphorischen des Orientierungslaufes – ein Wert jenseits konkreter Postensuche. Das entdeckt zu haben, dafür bin ich bis heute dankbar.
[1] Dazu hat der deutsche Soziologe Hartmut Rosa ein kluges Buch geschrieben: Unverfügbarkeit. Wien – Salzburg: Residenz Verlag GmbH, 2019.