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Gaza

«Der Krieg ist nach Gaza zurückgekehrt»

23. November 2025
Ignaz Staub
Ignaz Staub
Gaza
Ahmed Al-Bohisi trauert um seinen Cousin Mohammad Abu Shawish (18), der bei einem israelischen Militärschlag getötet wurde. Das Bild stammt von Sonntag, 23. November 2025. (Foto: Keystone/Abdel Kareem Hana)

Der Waffenstillstand in Gaza hält nicht: Noch will sich die Hamas nicht entwaffnen lassen und nach wie vor fliegt die israelische Armee (IDF) tödliche Luftangriffe. Zudem verschiebt die IDF die im Waffenruhe-Abkommen festgelegte «gelbe Linie» weiter in palästinensisches Gebiet hinein. 

Israelische Luftangriffe töteten Mitte vergangener Woche in Gaza 33 Menschen, unter ihnen acht Frauen und zwölf Kinder. Dutzende Verwundete mehr wurden in umliegende Spitäler eingeliefert. «Der Krieg ist nach Gaza zurückgekehrt», sagte Mahmoud Bassel, ein Sprecher des lokalen Zivilschutzes, in einem Sanitätszelt des Al-Ahli Spitals in Gaza City, in das alle paar Minuten neue Opfer von zwei israelischen Luftangriffen gebracht wurden: in Krankenwagen, in Autos, in Rikschas oder zu Fuss, die Toten in Wolldecken und Tücher gehüllt. 

«Es ist Wahnsinn» 

«Was in Gaza passiert, hätte sich niemand vorstellen können», sagte Bassel, den ein Video vor den Leichen von drei Kindern in einem Leichensack kauernd zeigt: «Es ist Wahnsinn. Diese Kinder werden getötet – ihr einziges Verbrechen ist es, Kinder zu sein (…) Wer wird diese Kinder beweinen? Ihre ganze Familie ist ausgelöscht worden. Die Mutter starb, die Kinder starben, der Vater starb – wer wird um sie trauern?» Er hob die Leiche eines kleinen Mädchens mit Zöpfen, einer rosafarbenen Trainingshose und einem roten Pullover auf: «Wann wird das Töten unserer Kinder aufhören? Sie wollen in den Armen ihrer Mütter schlafen, aber stattdessen sind sie tot.» 

In Gaza City töteten die Attacken der IDF 16 Menschen, unter ihnen drei Frauen und sieben Kinder. In Khan Younis derweil nahm das Nasser-Spital die Leichen von 17 Menschen, unter ihnen fünf Frauen und fünf Kinder, entgegen. Es waren die Opfer vier israelischer Luftangriffer auf Zeltunterkünfte von Vertriebenen.

Eine tödliche Waffenruhe

Auch der 36-jährige Mohammed Hamdouna, der vom Norden Gazas in ein Zelt in Al-Mawasi geflüchtet war, erzählte, der Krieg sei noch nicht vorüber: «Zwar hat die Zahl der Todesopfer abgenommen, aber die Märtyrer und der Beschuss bleiben jeden Tag. Wir leben immer noch in Zelten. Die Städte sind Trümmerfelder; die Grenzübergänge sind immer noch geschlossen und alles zum Leben Notwendige fehlt nach wie vor.»

Seit Beginn der Waffenruhe am 10. Oktober 2025 hat die israelische Armee laut dem Gesundheitsministerium in Gaza mindestens 312 Menschen getötet und 760 Personen verwundet. Im selben Zeitraum haben Bewaffnete mindestens drei israelische Soldaten erschossen. Ausserdem lässt Israel nicht die im Waffenstillstandsabkommen vereinbarte Zahl von 600 Lastwagen mit Hilfslieferungen in den Küstenstreifen, die es im Gebiet gemäss Uno-Angaben täglich mindestens braucht. 

Die «gelbe Linie» verschoben

Die israelische Armee rechtfertigte ihre Luftangriffe mit Attacken von «Terroristen» auf ihre Soldaten in Khan Younis, von denen allerdings keine zu Schaden kamen. Die Hamas ihrerseits dementierte, die IDF angegriffen zu haben, und sprach von einem «schrecklichen Massaker». Auf jeden Fall waren die Luftangriffe in Khan Younis und Gaza City die tödlichsten Vorkommnisse seit dem 28. Oktober, als eine Welle israelischer Attacken mehr als 100 Palästinenserinnen und Palästinenser tötete.

Die Hamas warf Israel zudem vor, das Waffenstillstandsabkommen zu verletzen, indem die IDF am Donnerstag die «gelbe Linie», die von Israel militärisch besetztes Gebiet in Gaza von palästinensischem Territorium trennt, um 300 Meter in Richtung Gaza City verschob. So hätten sich palästinensische Familien unvermutet hinter der neuen Linie befunden und sich gezwungen gesehen, erneut zu fliehen. 

Ein rechtloser Raum

Währenddessen sät der Dokumentarfilm eines britischen Regisseurs, den der Fernsehsender ITV unter dem Titel «Aus der Reihe brechen: Im Innern von Israels Krieg» vergangene Woche ausgestrahlt hat, Zweifel an wiederholten offiziellen Erklärungen der israelischen Armee, was die Erschiessung unbewaffneter Zivilisten in Gaza und den Einsatz von Individuen als menschliche Schutzschilder betrifft. Einige Soldaten zeigen sich im Film nur vermummt, während andere mit vollem Namen zu ihren Aussagen stehen. 

Was die Wehrdienstleistenden erzählen, widerspricht wiederholten Beteuerungen der IDF, was ihr Vorgehen in Gaza betrifft. Sie beschreiben einen rechtlosen Raum, in dem Gesetzesnormen und Regeln kollabieren. «Wenn du ungehindert schiessen willst, dann kannst du es», sagt zum Beispiel David, Kommandant einer Panzereinheit. 

«Mittel, Absicht und Fähigkeit»

So dementierte die IDF im August 2024, Palästinenser in Gebäuden oder Tunnels gemäss dem informellen «mosquito protocol» als menschliche Schutzschilder eingesetzt zu haben – eine Praxis, die angeblich weit verbreitet war. Erst nach Medienberichten und einer Untersuchung des Roten Kreuzes beschloss die israelische Armee im vergangenen März, sechs angebliche Fälle durch die Militärpolizei verfolgen zu lassen. Die Untersuchungen dauern noch an.

«In der Ausbildung für die Armee haben wir alle ‘Mittel, Absicht und Fähigkeit’ gesungen», sagt Hauptmann Yotam Vilk, Offizier einer Panzereinheit, was die Richtlinien der IDF in Sachen legitimer Ziele betrifft: «In Gaze gilt ‘Mittel, Absicht und Fähigkeit’ nicht. Kein Soldat erwähnt je ‘Mittel, Absicht, Fähigkeit’. Ein Verdacht genügt, wenn jemand in einem Gebiet unterwegs ist, wo das verboten ist. Ein Mann, der zwischen 20 und 40 Jahren alt ist.»

Alles ist verdächtig

Dem stimmt ein Soldat namens Eli zu: «Wenn sie zu schnell gehen, ist das verdächtig. Wenn sie zu langsam gehen, ist das verdächtig. Dann planen sie etwas. Wenn drei Männer unterwegs sind und einer von ihnen fällt zurück, dann ist es eine Zwei-zu-Eins Infanterieformation – eine militärische Formation.» Der Entscheid über Leben und Tod hange nicht von Richtlinien, sondern von der Laune eines Kommandanten ab.

Eli erzählt von einem Fall, in welchem ein höherer Offizier einem Tank befahl, ein Gebäude zu zerstören, das in einem Gebiet lag, das als für Zivilisten vorbehaltene Zone gekennzeichnet war: Ein Mann stand auf dem Dach und hing Wäsche auf und der Offizier folgerte, dass er ein Späher war: «Er ist kein Späher. Er hängt nur Wäsche auf. Sie können sehen, dass er Wäsche aufhängt.»

Von offiziellen Aussagen beeinflusst

«Nun war es nicht so, dass dieser Mann einen Feldstecher hatte oder ein Gewehr trug», erzählt Eli: «Die nächste Militäreinheit war 600 bis 700 Meter entfernt. So, falls er nicht Adleraugen hatte, wie konnte er ein Späher sein? Und der Panzer feuerte eine Granate ab. Die Hälfte des Gebäudes kollabierte. Und das Ergebnis waren viele Tote und Verwundete.» 

Einige der interviewten Soldaten berichteten, sie hätten sich durch Aussagen von israelischen Politikern und religiösen Führern in ihrem Verhalten beeinflussen lassen. Solche hatten nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023, als die Hamas rund 1200 Menschen tötete und 251 Personen als Geiseln nahm, durchblicken lassen, dass jeder Palästinenser und jede Palästinenserin ein legitimes Ziel war.

«Eine ganze Nation verantwortlich» 

«Dort draussen ist eine ganze Nation, die verantwortlich ist», sagte etwa Israels Staatspräsident Isaac Herzog: «Sie stimmt nicht, diese ganze Rhetorik, dass Zivilisten nichts davon wussten, das stimmt überhaupt nicht.» Wenn einer das wiederholt höre, dann beginne man, es auch zu glauben», sagt Panzeroffizier Eli im Dokumentarfilm. Ein Sprecher des Präsidenten liess verlauten, Isaac Herzog sei jemand, der sich ausdrücklich für humanitäre Anliegen und den Schutz Unschuldiger einsetze. 

Ähnliche Einschätzungen wie jene aus der Politik stammten der ITV-Sendung zufolge auch von Rabbinern in den Reihen der israelischen Armee. In einem Fall, erinnert sich Major Neta Caspin, habe sich ein Rabbiner zu ihr gesetzt und während einer halben Stunde erklärt, warum die Israelis wie die Terroristen des 7. Oktobers sein müssten: «Dass wir uns an allen von ihnen, einschliesslich der Zivilisten, rächen müssen. Dass wir nicht unterscheiden sollen und das der einzige Weg ist.» 

«Eine einzige terroristische Infrastruktur»

Rabbiner Avraham Zarbiv, ein extremistischer jüdischer Kleriker, der während mehr als 500 Tagen in Gaza Dienst tat, sagt im Dokumentarfilm: «Alles dort (in Gaza) ist eine einzige grosse terroristische Infrastruktur.» Der Rabbiner steuerte selbst Bulldozer, wenn es darum ging, in palästinensischen Nachbarschaften Gazas Häuser zu zerstören und er propagierte auch entsprechende Taktiken: «Die IDF investiert Hunderttausende Schekel, um den Gazastreifen zu zerstören. Wir haben das Verhalten einer ganzen Armee verändert.»  

Ein Söldner namens Sam, der in den Verteilzentren der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) im Einsatz war, widerspricht im Film auch Behauptungen, die IDF habe dort keine unbewaffneten Zivilisten getötet. Er beschreibt einen Vorfall, bei dem zwei junge Palästinenser gerannt seien, um Lebensmittel zu bekommen; zwei Soldaten hätten die beiden verfolgt und mit gezielten Schüssen getötet. In einem anderen Fall habe er gesehen, wie ein Panzer in der Nähe eines Zentrums auf ein ganz normales Auto schoss, in dem vier Personen sassen. 

Uno-Angaben zufolge sind in der Nähe von GHF-Standorten mindestens 944 palästinensische Zivilisten getötet worden. Seit Kriegsbeginn sind in Gaza insgesamt mehr als 69’000 Menschen ums Leben gekommen. Tausende Tote mehr werden noch unter den Trümmern vermutet. Auf israelischer Seite sind laut «The Times of Israel» bisher (Stand 8. November) 922 Angehörige der Armee und 70 Angehörige der Polizei getötet worden.

«Ein schwarzer Tag»

Mittlerweile wird es Winter in Gaza, der dritte seit Kriegsbeginn. Wind, Nässe und fallende Temperaturen setzen den Menschen in den Zeltlagern wie in Al-Mawasi zunehmend zu, wo eine halbe Million Palästinenserinnen und Palästinenser leben. «Alles kollabierte … Wir reparierten unsere Unterkunft, aber in der Nacht brach sie unter dem starken Regen erneut zusammen», sagte Breem nach dem ersten Wintersturm: «Alle unsere Habseligleiten waren durchnässt. Der Tag, an dem die Winde bliesen, war ein schwarzer Tag für uns.»

Unterkünfte sind Hilfsorganisationen zufolge noch vor Lebensmitteln das dringend Notwendigste für die Menschen in Gaza, deren Häuser durch die Attacken der israelischen Armee zerstört oder unbewohnbar gemacht worden sind. «Ist es besser geworden? Ja … in dem Sinn, dass die Leute nicht mehr verhungern. Ist es genug? Sicher nicht», berichtete der Vertreter einer internationalen NGO: «Wir haben grosse Vorräte von Zelten und Blachen und wir können sie nicht einführen. Viel Material wartet immer noch darauf, dass alle Steine weggeräumt werdenen, die uns die Israelis in den Weg legen. Wir könnten 10’000 Zelte pro Tag verteilen.» Zum Beispiel ist es nicht erlaubt, Zeltstangen nach Gaza zu bringen, da diese angeblich für militärische Zwecke verwendet werden können. 

«Ein täglicher Kampf»

COGAT, jene Instanz der IDF, die den Zugang zu Gaza kontrolliert, dementiert solche Vorwürfe und betont, sie habe in den letzten Monaten die Verteilung von gegen 140’000 Zeltplanen erleichtert, obwohl 19’000 Zelte internationaler NGOs nur für Sommerverhältnisse geeignet sind. Ein Zelt kostet auf dem Mark rund 650 Franken, was sich die wenigsten Menschen des Küstenstreifens nach über zwei Jahren Krieg leisten können. «Die Lebensmittel auf dem Markt können wir uns überhaupt nicht leisten», sagte Abu Jerad, der vor dem Krieg Maler war: «Wasser ist ebenfalls ein Kampf. Wir müssen es von weither herbeischaffen und es reicht nicht für einen ganzen Tag.»

Dem ersten Wintersturm in Gaza werden weitere folgen und auch die Temperaturen werden in den kommenden Wochen weiter fallen. «Ohne grundlegende Infrastruktur oder ohne richtige Abflüsse sammelt sich das Regenwasser um die Zelte», berichtete Mohammed Madhoun, Gesundheitsfachmann in Deir al-Balah im Zentrum Gazas: «Überbelegung und der beschränkte Zugang zu sauberem Wasser machen die Lage punkto Gesundheit noch viel schlimmer.»

Der erste Sturm hatte Zelte über Strassen und Strände geweht, wo die Wellen viele von ihnen überspült haben. «Das Geräusch der Wellen hindert uns am Schlafen. Wir schlafen nur eine Stunde oder kürzer, und das Meerwasser erreicht die Zelte, wenn die Wellen anbranden», sagte Breem: «Uns fehlt alles, was man im Winter braucht: Decken, Teppiche, Bettwaren. Unter uns haben Krankheiten zu grassieren begonnen: Erkältungen, Husten, Schmerzen … und der Winter beginnt erst.» 

Quellen: The New York Times, The Washington Post, The Guardian, Haaretz, Drop Site, Zeteo.

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