«Galley envy» (Druckfahnenneid) heisst der Influencer-Tick, als Erste ein Vorausexemplar eines Bestsellers zu ergattern. Das inspiriert dazu, ein Rezensionsexemplar aus dem Jahr 1950 hervorzuholen: «Top of the World» von Hans Ruesch, einem ungewöhnlichen Autor.
Den eigenartigsten Schutzumschlag meiner Bücher hat zweifellos eine Publikation aus dem Jahr 1950. Er gehört zu einem eigenartigen Roman eines eigenartigen Autors, der, obgleich Schweizer, wohl kaum der Schweizer Literatur zuzuschlagen ist. Zunächst aber zum Schutzumschlag, einer Erfindung, die ursprünglich etwas Wertvolles, nämlich den Einband, vor unerwünschten Fremdeinwirkungen zu schützen hatte. In Anbetracht jedoch der trostlosen Pappdeckel, wie sie gerade im deutschen Verlagsgeschäft seit Jahrzehnten die Regel sind und denen alles Schützenswerte längst ausgetrieben worden ist, darf man ihn getrost auf seine vornehmste Funktion reduzieren: Verkaufsförderung.
Der Schutzumschlag als Waschzettel
Nur dies und nichts anderes bezweckt unser krimigelber Protagonist. Über dem Titel in Rot, «Top of the World», steht der Name des Autors mit einem Zusatz: «Hans Ruesch’s Novel». Unter dem Buchtitel die «blurbs» von drei namhaften Autoren und einem literarischen Leitmedium. Ein Umschlag somit, der bloss ein einziger, grosser Waschzettel ist.
Negley Farson, der amerikanische Abenteurer und berühmte Auslandskorrespondent, der beim Ausbruch der Russischen Revolution zugegen war, Autor des Klassikers «Going Fishing», bescheinigt dem «äusserst ungewöhnlichen» Werk eine «sonderbare Schönheit». Der ungemein produktive amerikanische Schriftsteller Christopher Morley, Autor der freundlichen Satire «Where the Blue Begins» (1922), die von Hunden wie du und ich bevölkert ist, nennt das Buch, das ihn «fasziniert und entsetzt» habe, «schreckenerregend». Etwas überraschend figuriert zwischen den beiden Thomas Mann, der den Roman als «fesselnd» bezeichnet und vorsichtig meint, dass er dem Leser «Einblick in eine gänzlich neue Welt» gewähre. Noch weniger auf die Äste hinaus lassen will sich der «New Yorker», dem nichts einfällt ausser «So gut, dass es in einem Zug durchgelesen werden sollte».
Darauf wird zurückzukommen sein. Unsere Ausgabe in schlichtem Leineneinband war ersichtlich nicht für den Handel bestimmt, sondern als Vorabexemplar zur Rezension. Das belegt die Verlagsnotiz von Gollancz, die die Redaktionen ersucht, die Besprechung nicht vor dem 18. September 1950, dem Londoner Erscheinungstermin des Buchs, zu publizieren. Leider ist die wohl erfolgte Rezension nicht beigelegt; im sehr sauberen Text finden sich nebst ein paar Eselsohren einzig drei mit der Füllfeder markierte Passagen, die als Zitate gedient haben dürften.
«Galley envy» oder Der Hype um die Druckfahne
Was damals, 1950, als «advanced reader copy» ausserhalb des Verlagswesens keine Beachtung fand, ist heute, im Zeitalter der Influencer, zum Objekt eines «galley envy» geworden, der zumal in den USA zunehmend bizarre Züge annimmt, wie unlängst in Graydon Carters Onlinemagazin «Air Mail» zu lesen war. Denn bei diesem neuen «Druckfahnenneid» geht es darum, in den Besitz eines der (wenigen) Vorabexemplare zu kommen, um damit auf Social Media aufzutrumpfen. War das Rezensionsexemplar einst Mittel zum Zweck, gibt es nun die «status galley», wo die Druckfahne einzig dazu dient, Vorauswissen zu signalisieren oder auch nur zu simulieren. Kenntnis des Inhalts? Zweitrangig – was aber keinesfalls heisst, dass die Verlage diese Werbung und Verbreitung auf Social Media nicht als äusserst nützliches Vehikel betrachteten.
Manche Exponenten der Verlagsszene geben diesen Distributionskanälen bereits den Vorzug vor den «mit Rezensionsexemplaren überladenen Pulten» der Starkritiker. Gemäss «Air Mail» haben die «galleys» inzwischen ihren festen Platz neben den «limited-edition sneakers» und sind wie diese zu Sammlerstücken geworden. Wobei es immer noch exklusiver geht. «Wahre Distinktion» bestehe darin, den allerersten Blick auf das Objekt zu erhaschen. Dazu, für eine «No. 1 status galley», muss der Verlag ein Exemplar für einen persönlich drucken, bevor es die Druckfahne gibt. Es gehe darum, einer von den ersten zehn Leuten auf der Welt zu sein, die das Buch gelesen haben. Beispielsweise Molly Jong-Fasts «How to Lose Your Mother». Dafür muss man dann allerdings eine Celebrity wie Jennifer Aniston, Sarah Jessica Parker oder Amy Schumer sein.
Beeindruckende Erschaffung einer Welt
Einleitend schickt der Autor «Top of the World» doppelsinnig einige «cold facts» voraus. Obwohl es sich um eine literarische Fiktion handle, lege er Wert darauf, dass sämtliche sozialen, sexuellen und Ernährungsgepflogenheiten, medizinischen Verfahren und religiösen Vorstellungen, die zur Sprache kämen, auf nüchternen ethnografischen Fakten beruhten, die sich vor allem auf die «Central Eskimos» bezögen. Jenes Volk also, dem Franz Boas‘ grundlegende Darstellung in seinem gleichnamigen Forschungsbericht von 1888 gilt.
Ebenso beigezogen worden seien die Publikationen von Fridtjof Nansen, Knud Rasmussen, Peter Freuchen, Kai Birket-Smith oder Gontran de Poncins – mit Ausnahme des Letzteren mithin die Crème de la Crème der klassischen Forschung unter den Ureinwohnern der Arktis. (Von den Forschungen des norwegischen Musikethnologen Christian Leden, der von 1913 bis 1916 unter Central Eskimos gelebt hatte, deren Dokumente teilweise im Musée d’Ethnographie in Neuchâtel aufbewahrt werden, ebenso wie diejenigen des Neuenburgers Jean Gabus, niedergelegt in «Vie et coutumes des Esquimaux-caribous», 1944, scheint er keine Kenntnis gehabt zu haben.) Vom Fall des Mannes, heisst es abschliessend, der seine eigenen erfrorenen Füsse gegessen und damit überlebt habe, sei in den Tageszeitungen zu lesen gewesen.
Keine Frage ist, dass Ruesch sein Amalgam des Gelesenen in einem erstaunlich adäquaten wie idiomatischen Englisch süffig darzustellen weiss. Mehr noch: Es ist sprachlich und literarisch sehr viel besser als die «Quellentexte», gerade auch die Romane Freuchens, der als einziger der Genannten literarische Ambitionen hegte. Der hünenhafte Däne, der mit einer Frau vom Volk der Polareskimos, der Inughuit, verheiratet war und die Siedlung Thule im äussersten Norden Grönlands begründete, hat, wie sein Expeditionsgefährte Rasmussen, aus intimster Kenntnis der Verhältnisse geschrieben. Ruesch folgt ihm denn auch immer wieder bis in Details von Szenen und Episoden, wobei keinerlei Erklärungen abgegeben werden. Und so wird mit Behagen etwa ein Speisezettel ausgebreitet, auf den nebst den verschiedensten Mageninhalten von Beutetieren auch die Maden gehören, die da an der Fermentierung der Vorräte arbeiten.
Besonders amüsant, wie schon bei Freuchen, die Sprechweise der Indigenen, die unter möglichster Vermeidung des «ich» nicht nur von sich in der dritten Person sprechen, sondern deren Eigenschaften und Vorzüge fast bis zum Nullpunkt herabzusetzen trachten – was die Realität jeweils aufs Glanzvollste widerlegt. Und beklemmend, wie überall, wie das Naturvolk, das die Defizite der weissen Eindringlinge, die in der Arktis auf sich gestellt keinen Tag überleben würden, sofort erkennt, auch ihre moralische Armseligkeit durchschaut – und trotzdem in hilfloser Bewunderung der überlegenen materiellen Zivilisation und der höllischen Verheissungen der Missionare gefangen bleibt und so der Auslöschung seiner Identität entgegengeht.
Brillanter Rennfahrer, hochgebildeter Aktivist
Wer war Hans Ruesch? Wikipedia hält ihm einen Eintrag bereit, wie er nicht so schnell einem zweiten Schweizer zuteilwerden dürfte – und schon gar keinem Schweizer Schriftsteller. Wobei: Der Nachruf, den ihm Peter Hartmann Ende August 2007 in der NZZ widmete, erschien nicht von ungefähr im Ressort Sport. Denn Rueschs Leidenschaft gehörte dem Automobilrennsport. 1913 als Sohn eines Schweizer Textilindustriellen (nach andern Quellen: Arztes) und Kenner Pompeis in Neapel geboren, hatte er bereits 1932 im Klausenrennen die Kategorie der kleinsten Sportwagen gewonnen. Phänomenal sprachbegabt, wandte er sich nach etwas Jura (nach andern Quellen: Medizin) an der Universität Zürich dem Journalismus zu, wobei der Rennsport Mittelpunkt blieb. In den nächsten fünf Jahren vertrat Ruesch die Schweiz in rund hundert internationalen Rennen. Hartmann nennt den Bestsellerautor den «vielleicht aussergewöhnlichsten Schweizer Sportler des letzten Jahrhunderts».
Spezialist für Bergrennen, Inhaber eines Geschwindigkeitsweltrekords, hatte sich Ruesch, der schon länger in den USA lebte, nach einer Katastrophe vom Rennsport verabschiedet. Zeit, um seinen bereits 1939 bei Hallwag (dem Verlag der «Automobil Revue») erschienenen Rennfahrerroman «Gladiatoren» in einer Neufassung als «The Racer» ins Englische zu übersetzen – woraus ihn dann wiederum Arno Schmidt als «Rennfahrer» ins Deutsche übertrug. Hollywood machte daraus mit Kirk Douglas und unter der Regie von Henry Hathaway «The Racers» (1955); seinen «The Great Thirst» hat Jean-Jacques Annaud als «Black Gold» (2012) verfilmt. Auch «Top of the World» ist selbstverständlich verfilmt worden: als «The Savage Innocents» (1960), unter der Regie von Nicholas Ray und mit Anthony Quinn in der Hauptrolle des Ernenek, der hier Inuk heisst – und dem, wie Wikipedia meint, nach gängiger Auffassung Bob Dylan seinen Song «Quinn the Eskimo (The Mighty Quinn)» gewidmet habe. Peter O’Toole in seiner ersten grösseren Filmrolle verkörperte den «trooper», der Inuk festnehmen muss.
«Top of the World» hatte sich da in zahlreichen Sprachen schon mehr als zwei Millionen Mal verkauft; übertragen von N. O. Scarpi, war «Im Land der langen Schatten» bereits 1951 in der Schweiz erschienen. 1973 liess ihm der Autor noch den Abgesang «Back to the Top of the World» folgen.
Verfasser von einem runden Dutzend Romanen und Sachbüchern, widmete Hans Ruesch die nächsten Jahrzehnte ganz seinem Kampf gegen die Pharmaindustrie, gegen Tierversuche und insbesondere gegen Vivisektion. Keiner seiner bisherigen Verlage wagte eine Publikation. Erst gegen Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre erschienen seine diesbezüglichen Bücher, mit Titeln wie «Slaughter of the Innocent», «Vivisection Is Scientific Fraud» oder «Nackte Herrscherin. Entkleidung der medizinischen Wissenschaft».
Alle fussten sie wiederum auf gründlichem Quellenstudium. In den sechziger Jahren hatte Ruesch für einen italienischen Verlag eine medizinische Bücherreihe ediert und war so auf das Faktum der Tierversuche aufmerksam geworden. Er beleuchtete, wie es auf Wikipedia heisst, den Komplex nicht nur aus medizinischer, soziologischer und philosophischer Perspektive, sondern belegte seine vehemente Kritik, indem er die Tierexperimentatoren aus deren eigenen (englischen, französischen, italienischen und deutschen) Quellen zitierte. 1979 und 1984 begleitete er, «mittlerweile eine Symbolfigur der internationalen Anti-Tierversuchsbewegung» geworden, «die Grossdemonstrationen zu den Universitäten von Oxford, Cambridge und Los Angeles, wo er als Sprecher auftrat».
Aufruf
Aus dem Obenstehenden dürfte ersichtlich geworden sein, dass die Quellenlage zu Hans Ruesch, vorsichtig gesagt, widersprüchlich ist. Das Erstaunlichste ist gewiss, dass anscheinend nie der Versuch unternommen wurde, eine Biografie dieser ungewöhnlichen Erscheinung zu erstellen. Die Schweiz war für diesen Kosmopoliten aber nicht nur in Bezug auf die deutschsprachigen Ausgaben seiner Bücher wichtig; er hat in Klosters gelebt und ist am 27. August 2007 in Lugano-Massagno gestorben. So ist es vorstellbar, dass hier und dort noch Zeugnisse seines Wirkens vorhanden sind, deren Mitteilung jedenfalls von Interesse wäre. Der Autor würde sie gerne entgegennehmen.