Das zerstörerische Vorgehen Israels in Gaza und in Westjordanland mögen Parlament und Bundesrat nicht unmissverständlich kritisieren. Einzig die Linken möchten die Genfer Konventionen durchsetzen.
Im Ständerat und im Nationalrat fanden Sondersessionen zum Konflikt in Gaza statt. Die Motionen der SP und der Grünen wurden in beiden Räten abgelehnt. Einzig Punkt 1 des Vorstosses von SP-Ständerat Carlo Sommaruga, resp. von Nationalrat Fabio Molina, fand eine klare Mehrheit. Danach wird der Bundesrat beauftragt, seinen ganzen aussenpolitischen Einfluss einzusetzen, um zu verhindern, dass schwere Verbrechen im Gaza-Krieg verübt werden; weiter sei der freie Zugang für humanitäre Hilfe im Gaza-Streifen zu garantieren und auch die bedingungslose Freilassung aller Geiseln und politischer Gefangenen zu fordern. Aufschlussreich ist, dass alle bürgerlichen Ständerätinnen und Ständeräte aus der Romandie sowie aus dem Tessin Ja sagten, selbst einzelne Mitte- und FDP-Parlamentarier aus der Deutschschweiz. Im Nationalrat unterstützten auch die Grünliberalen sowie die Mehrheit der FDP und der Mitte Punkt 1 des entsprechenden Vorstosses.
Bundesrat Parmelin glaubt, der Bundesrat habe genug getan
In Punkt 2 wurden die gleichen Sanktionen gegen die gewalttätigen Siedler verlangt, wie sie die Europäische Union (EU) beschlossen hatte. Mit einer Ausnahme stimmen auch alle Westschweizer zu, aber nur noch ein bürgerlicher Ständerat aus der Deutschschweiz. Im Nationalrat stimmten bloss zwei Mitte-Nationalräte mit der SP und den Grünen.
Punkt 3, 4 und 5 wurden wuchtig abgelehnt. Alle Produkte aus den widerrechtlich erbauten israelischen Siedlungen in Westjordanien und der Golan-Höhen sollten wie von der EU mit Etiketten versehen werden. Zudem sollte jede militärische Zusammenarbeit untersagt werden, auch der Export von Gütern, die für militärischen wie zivilen Gebrauch verwendet werden können. Gleichzeitig sei das Freihandelsabkommen mit Israel zu suspendieren. Im Ständerat waren SP und Grüne nicht mehr geschlossen für ein Ja; im Nationalrat waren SP und Grüne ganz allein.
Bundesrat Parmelin betonte in beiden Räten, der Bundesrat habe von beiden Parteien inständig verlangt, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Er zeigte sich erschüttert, ob all des menschlichen Leids in Gaza, zählt auf, was der Bundesrat alles von beiden Parteien verlangt hat, z. B. die Respektierung des internationalen Rechts. Parmelin glaubt, den ersten Punkt der gleichlautenden Motionen Sommaruga und Molina erfüllt zu haben. Doch der Bundesrat unterlässt es konsequent, Israel direkt zu kritisieren und deren Regierung und Armee Kriegsverbrechen vorzuwerfen. Punkt 1 der beiden Motionen ist deshalb, meiner Meinung nach, nicht erfüllt. Die Sanktionen der EU gegen die gewalttätigen Siedler in Westjordanland will der Bundesrat nicht ergreifen – nach sorgfältiger Interessenabwägung rechtlicher Aspekte auch in den Bereichen Wirtschaft und Aussenpolitik. Auch die weiteren Punkte der Motionen lehnt er ab.
Anerkennung Palästinas als Staat – einige Bürgerliche sagen Ja
Die Anerkennung des Staates Palästina durch die Schweiz – es handelt sich um eine Standesinitiative des Kantons Genf – wurde im Ständerat mit 27 gegen 17 Stimmen abgelehnt. Für die Anerkennung Palästinas sprachen sich ausser SP und Grünen auch alle bürgerlichen französischsprachigen Ständeräte aus, mit einer Ausnahme, sowie die Grünliberalen und ein Mitte-Politiker aus der Deutschschweiz.
Starker Einfluss der parlmentarische Gruppe Schweiz Israel
Vor allem im Ständerat zeigten Politiker aus der Westschweiz und dem Tessin mehr Empathie mit den gepeinigten Palästinensern und Palästinenserinnen. Der starke Einfluss auf die eidgenössischen Räte der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Israel, der Ignazio Cassis als Nationalrat angehörte, ist bemerkenswert. Mit einem Schreiben an Aussenminister Cassis kritisierte die parlamentarische Gruppe den Bundesrat, weil er das Selbstverteidigungsrecht Israels in seinen Stellungnahmen zu wenig betone. Ganz allgemein ist die Israel-Lobby In der Schweiz sehr aktiv. Jedenfalls sind bürgerliche Parlamentarier kaum bereit festzustellen, dass die israelische Regierung, die Armee, auch ein Teil der Siedler, Kriegsverbrechen begehen, wie das der internationale Gerichtshof glaubt. Zahlreiche jüdische Professoren und Schriftsteller, die in Israel oder anderen Ländern leben, kritisieren die Regierung Netanjahu scharf und sprechen ausdrücklich von Kriegsverbrechen, sogar von Genozid.
Im Falle des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat die Schweiz die grobe Verletzung des internationalen Völkerrechts scharf verurteilt. Obschon die Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen besonders in der Pflicht steht, Massnahmen zu ergreifen, sofern diese, wie jetzt auch von Israel im zerstörerischen Krieg in Gaza verletzt werden, ignoriert das der Bundesrat. Daraus müssen wir den Schluss ziehen, dass die Schweiz das befreundete Israel nicht offen kritisieren will. Das bedeutet: Kriegsverbrechen von Israel und Russland werden mit zwei ungleichen Ellen gemessen.
Hungerstreik und Petitionsübergabe
Während der Herbstsession finden auf dem Bundesplatz in Bern Protestkundgebungen statt. Eine Gruppe Ärzte und Pflegepersonal verlangt von der Schweiz, sich für den Schutz der Bevölkerung in Gaza einzusetzen. Aus Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen in Gaza sind sie im Hungerstreik: alle 24 Stunden kommen andere Personen, die während 24 Stunden fasten.
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat zudem einen offenen Brief zu Gaza an Bundesrat Ignazio Cassis geschrieben. Er wurde von einer Gruppe von Mitarbeitern des Hilfswerks am 10. September mit mehr als 30’000 Unterschriften im Bundeshaus übergeben. Im Brief heisst es u. a.: «Ärzte können den Genozid nicht beenden – Regierungen schon. Die Schweiz muss handeln!»
Über diese eindrücklichen Aktionen berichteten in der deutschen Schweiz gemäss der Schweizer Mediendatenbank nur einzelne Medien. In der Romandie und in Tessin war die Berichterstattung ausführlicher, auch von den SRG-Sendern.