Manche ihrer Bilder muten an, als gehörten sie in den Bereich des Art Brut. Die Turiner Künstlerin Carol Rama (1918–2015) war in der Kunstszene bestens vernetzt, ein feministisches «Urgestein» und zudem mit manchen Arte-Povera-Vertretern befreundet.
Evelyne Axel, Heidi Bucher und Emma Kunz und Hannah Villiger im Muzeum in Susch, Małgorzata Mirga-Tas, Vivian Suter und Sonja Sekula im Kunstmuseum Luzern, Anna-Maria Jehle im Kunstmuseum St. Gallen, Kiki Kogelnik in La Chaux-de-Fonds und im Kunsthaus Zürich, Suzanne Duchamp bald ebenfalls im Kunsthaus Zürich, die von Elisabeth Bronfen betreute Ausstellung «Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau» im Aargauer Kunsthaus in Aarau: Ausstellungen von Werken meist verstorbener Künstlerinnen eher gesetzten Alters, die wenig Beachtung fanden, haben sich in letzter Zeit gehäuft. Zweifellos besteht Nachholbedarf, nachdem über die Jahre hinweg die Schweizer Museen vor allem das Schaffen männlicher Künstler zur Geltung brachten. Aber nicht immer sind es «Entdeckungen», was die Museen ihren Besucherinnen und Besuchern präsentieren.
Auch das Werk von Carol Rama ist kaum mehr als Entdeckung zu verbuchen, auch wenn es im deutschen Sprachraum kaum gezeigt wurde und die Berner Ausstellung «Carol Rama – Rebellin der Moderne» erstmals in der Schweiz Gelegenheit bietet, diesem Œuvre so ausführlich zu begegnen. Schliesslich beteiligte sich die Künstlerin seit den 1940er Jahren an Ausstellungen vor allem in Turin, 1950 war ihr erstmals und später häufig an der Biennale in Venedig zu begegnen, und die 85-jährige Künstlerin erhielt 2003 für ihr weit verzweigtes Lebenswerk den Goldenen Löwen der Biennale Venedig – was sie mit einigem Sarkasmus kommentierte: «Das macht mich natürlich stocksauer, denn wenn ich wirklich so gut bin, dann kapiere ich nicht, warum ich so lange hungern musste, auch wenn ich eine Frau bin.» Carol Rama war eine «Künstler-Künstlerin», die vor allem von Künstlern rezipiert wurde.
Bricolages
Mit ihrem Kommentar zum Goldenen Löwen der Biennale sprach sie eines ihrer Hauptthemen und auch ihre Rolle als «feministisches Urgestein» der Kunst Italiens an. Ihr frühes Aquarell-Schaffen ist von schonungsloser Offenheit, was erotische Empfindungen und sexuelle Inhalte und damit ihre Identität als Frau betrifft. Manche dieser Bilder galten nicht nur im Italien der späten 1930er- und der 1940-er Jahre als skandalös und obszön.
Warum wählte die junge Künstlerin diese anstössige künstlerische Sprache? «Ich male in erster Linie, um mich zu heilen», sagte Rama selber und wählte einen Weg zu ihrer Kunst ausserhalb der herkömmlichen Bildungsstätten. Sie kam als Autodidaktin zur Kunst und brach die Ausbildung an einer Akademie ab, verfolgte aber mit wachen Augen, was in der Kunst in früheren Zeiten und in der Kunst um sie vorging. Trotzdem blieb ihre Kunst selbständig und autonom, und bald wurde ihr Schaffen (von Autoren wie Eduardo Sanguineti) mit Claude Lévi-Strauss‘ Begriffen des «Wilden Denkens» und des «Bricolage» (am ehesten übersetzen mit Bastelei) in Verbindung gebracht – mit einem spontanen Reagieren mittels naheliegendem und stets zur Verfügung stehendem Material auf Umwelt und private Befindlichkeiten.
Das Resultat ist eine improvisierende und sehr persönliche Kunst «aus dem Bauch heraus» und nicht als Folge wohl bedachter Strategien und intellektueller Pläne. (Für den Ethnologen und Anthropologen Lévy-Strauss steht dem spontan und frei arbeitenden Bricoleur der rational planende Ingenieur gegenüber.) Damit war Carol Rama ihrer Zeit weit voraus und nahm in ihrem Schaffen die Paradigmenwechsel vorweg, welche erst in der Kunst der 1960er Jahre manifest wurden.
Carol Rama wandte sich in ihren Anfängen vor allem der Zeichnung zu und in diesem Medium ihren wichtigsten Themen: ihrer Existenz als Frau, aber auch der Krankheit, der körperlichen Versehrtheit und dem Tod. Dabei ging es um Erlebnisse in ihrer Jugend wie um die Krankheit der Mutter, die in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde, um den Bankrott des Vaters in der Folge der Wirtschaftskrise, was die gutbürgerliche Existenz der Familie beendete, und um den Tod der Mutter möglicherweise durch Suizid.
Anfangs der 1930er Jahre schrieb sich Carol Rama in der Akademie von Turin ein, doch beendete sie das Studium nicht. In den 1940er Jahren bezog die Künstlerin eine Dachwohnung in Turin, wo sie bis an ihr Lebensende 2015 blieb. Eine erste Ausstellung ihrer Werke in einer Suppenküche für Turins Arme wurde wegen Obszönitäten polizeilich geschlossen.
Sie pflegte einen regen Austausch mit Intellektuellen und Schriftstellern, stellte gemeinsam mit Carlo Carrà und Giorgio Morandi aus, pflegte Kontakte mit Man Ray und besuchte in Paris die berühmte Schriftstellerin Colette. Bei ihrem Tod war Carla Rama längst zu einer Ikone des italienischen Feminismus geworden. Fotos zeigten die betagte Künstlerin mit ihrem typischen blonden Haarkranz in ihrer mit allerlei gefundenen und selbst geschaffenen Kunstobjekten übervollen Wohnung in Turin.
Wild und Explosiv
Was an Carol Rama verblüfft: Sie bleibt ihrer Mission als Künstlerin, die auf Seitenlinien aktiv ist und Mainstream und Vereinnahmung meidet, treu. Sie bleibt Wildem Denken und der Bricolage im Sinne von Lévi-Strauss verpflichtet und erfindet sich trotzdem immer wieder neu. Ihr Beitrag zur fundamentalen Erneuerung der Zeichnung endet in den frühen 1940er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein Beispiel dafür ist die Darstellung einer kranken Frau – wohl der Mutter Carol Ramas – in einer psychiatrischen Klinik. Zu sehen ist eine nackte Frau auf einem Bett inmitten von Gittern, die behängt sind mit schwarzen Kleidungsstücken oder Gurten zur Fixierung der Patientin.
Dem Thema der Psychiatrie ist mehrfach im zeichnerischen Werk Ramas zu begegnen. Das Thema wird in den 1960er Jahren abgelöst durch Materialbilder, in denen Carol Rama wild und explosiv ausbrechende Malerei und Zeichnung kombiniert mit real ins Bild eingefügten Objekten wie gläsernen Puppenaugen. Bald werden ihre Werke dunkel und schwarz. Rama verwendet entsprechende Materialien, schwarze Veloschläuche zum Beispiel, die sie in Streifen über die Bildfläche spannt. Damit nimmt sie Tendenzen der jungen Arte Povera auf, deren besonders in Turin aktive Exponenten mit einfachen Materialien experimentierten, die bis anhin im Kunstkontext keine Verwendung fanden. Und in den 1980er und 90er Jahren findet Carol Rama in expressiven, mitunter fast gewalttätig ausbrechenden Malereien – analog zu den Vertretern der Transavanguardia wie Francisco Clemente, Nicola De Maria oder Enzo Chuchi – zu neuen, oft rätselhaften Figurationen.
Das Kunstmuseum Bern stellt mit dem Werk Carol Ramas seinem Publikum eine hierzulande weitgehend unbekannte Position vor, die in der Kunstentwicklung Italiens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Wichtigkeit hat und den Gang der Dinge nicht nur begleitete, sondern in manchen Facetten auch eigenwillig prägte und vorwegnahm. Faszinierend ist auch Carol Ramas in zahlreichen Fotos dokumentierte Selbstinszenierung als «Gesamtkunstwerk», wie es Martina Weinhart, Kuratorin an der Frankfurter Schirn-Kunsthalle, in ihrem kenntnisreichen Katalog-Essay formuliert.
Kunstmuseum Bern: Carol Rama – Rebellin der Moderne
bis 13 Juli
Katalog 35 Franken
In Zusammenarbeit mit der Schirn-Kunsthalle Frankfurt am Main