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Salzburger Festspiele

Aus den Fugen geraten

17. August 2025 , Salzburg
Annette Freitag
Drei Schwestern
Als wären’s Bilder aus der Tagesschau … «Drei Schwestern» an den Salzburger Festspielen (Foto ©sf-monika-Rittershaus)

Die Salzburger Festspiele geben sich dieses Jahr politischer in ihren Produktionen, die allgemeine Weltlage hinterlässt ihre Spuren und führt gleichzeitig zu herausragenden Produktionen. Düster ist es auf der grossen Bühne der Felsenreitschule: Trümmerberge, eine zerstörte Bahnschiene bäumt sich auf, Menschen wuseln umher … Bilder wie aus Gaza, denkt man und Beklemmung macht sich breit.

Es ist das Bühnenbild der Oper «Drei Schwestern» von Peter Eötvös. Die Produktion ist in diesem Sommer geradezu sinnbildlich für den Zustand unserer Welt geworden, die in jeder Beziehung aus den Fugen geraten ist.

Vorlage ist das berühmte Theaterstück von Anton Tschechow. Die Schwestern Irina, Mascha und Olga verkümmern in der russischen Provinz, sie leiden am Leben und haben nur einen Sehnsuchtsort: Moskau! In Moskau, da findet das Leben statt, die Liebe und überhaupt … In Moskau haben sie ihre Kindheit verbracht, in Moskau waren sie glücklich, dort wollen sie wieder hin … nach Moskau!

Countertenöre als «Schwestern»

In Salzburg werden die drei Schwestern nicht von Frauen dargestellt, sondern von Countertenören, also von Männern. Müsste es dann nicht heissen «Drei Brüder», frage ich Evgeny Titov, den Regisseur. Wir sitzen hoch über der Felsenreitschule auf einer kleinen Terrasse, der Blick über die Stadt ist überwältigend schön, und Evgeny Titov gut gelaunt. 

Maxime Pascal (links) und Evgeny Titov
Dirigent und Regisseur der «Drei Schwestern»: Maxime Pascal (links) und Evgeny Titov (Foto © sf Jan Friese)

«Die Countertenöre sind schon vom Komponisten so vorgesehen», sagt Titov. «Ich glaube er wollte damit eine Situation schaffen, die vielschichtig ist, nicht eins zu eins. Es geht nicht darum, ob es nun ein Mann oder eine Frau ist. Man kann Kunst nicht so klar definieren und sagen: Naja, das ist ein Bereich, da ist die Grenze und das ist ein anderer Bereich. Das ist manchmal sehr fluide und das macht es spannend, wenn die Grenzen gebrochen werden. Da, wo man aus der Gewohnheit, aus der Norm, aus dem Alltag aussteigt, und wenn die Mischung stimmt, da fängt Kunst an. Ich glaube, Eötvös wollte mit dieser Besetzung sagen: Schau mal, es ist nicht eins zu eins, es ist nicht Realität pur. Denn natürlich ist es eine leichte Irritation, wenn man sagt ‘ich bin Frau’ und nicht nur ‘ich bin Countertenor und singe eine männliche Partie mit höherer Stimme’, was es natürlich auch gibt. Nein, es ist etwas, das wir in dieser Form nicht kennen oder vielleicht noch nicht gewohnt sind.»

Durch TikTok, Instagram und Social Media sind auch Countertenöre inzwischen sehr populär geworden. «Ja, jetzt weiss man alles über jeden», sagt Titov. «Jeder schreit in die Welt, ich mache das, ich esse jenes, ich war jetzt da und gestern habe ich gebadet … und ihr müsst das unbedingt wissen!» … Titov lacht und sagt dann wieder ernst: «Für mich ist es eine Herausforderung und ich frage mich, wie gehe ich damit um, es ist eine andere Körperlichkeit.»

Drei Schwestern – drei Sequenzen

Eötvös hat «Drei Schwestern» in Sequenzen aufgeteilt, die die Chronologie Tschechows umstülpen. «Das Stück fängt jetzt mit dem Epilog an», sagt Titov. «Die ersten Worte, die die drei Schwestern bei Eötvös sagen, sind bei Tschechow die letzten Worte. Sie thematisieren Leid, Abschied, Verlust und Hoffnung und die Frage nach dem Sinn des Daseins.» 

Für Titov ist das kein Problem, da er sich bei Tschechow auskennt. Aber er macht sich ein bisschen Sorgen um das Publikum, das nicht weiss, wie die Versatzstücke zusammenpassen. «Jemand hat mich gefragt, ob das nicht wahnsinnig schwer sei, weil alles durcheinander ist. Das müsse doch ganz, ganz krass sein … und ich habe gesagt, ja, es ist krass, aber es ist auch befreiend. Der andere fragte: Wieso? Und ich antwortete: Weil Eötvös dir sagt: Schau mal, alles ist möglich, die Regeln sind anders, es ist ein Traum, in dem du sagst, ich gehe dann dahin … und plötzlich steht da meine Oma, die eigentlich schon zehn Jahre tot ist, und sie sagt, komm nach Hause, ich habe etwas gekocht …, und dann bin ich plötzlich am Flughafen, fliege nach Mallorca und es passiert das und das … im Traum ist das möglich. Es ist alles in einem … offensichtlich funktioniert unser Gehirn so und offensichtlich auch unser Gedächtnis, unsere Erinnerung.» 

Titov ist völlig fasziniert von diesen Vorgängen, die Eötvös schon in sein Werk hat einfliessen lassen und die Titovs Inszenierung nun prägen. «Ich habe wahnsinnig Spannendes darüber gelesen: Was ist Erinnerung? Man erinnert sich erst einmal an ein Ereignis, beim zweiten Mal an die Erinnerung, beim dritten Mal erinnert man sich an die Erinnerung der Erinnerung …, dann sagt man: Der hat dies gesagt … und ich sage, nein, das habe ich gesagt, nein … wer hat das gesagt?»

Damit erklärt er die unterschiedlichen Sichtweisen der drei Sequenzen, in die Eötvös die «Drei Schwestern» zerlegt hat. «Es ist nicht einfach Best of Tschechow, es ist das, was unser Gehirn fixiert. Irina sagt, das war so, und Andrey sagt, es war ganz anders. Es sind aber nicht einfach drei Perspektiven auf das gleiche Ereignis. Das wäre zu einfach. Es ist noch eins drauf: Es ist das Leben in seiner Komplexität. Jeder hat eine komplett andere ’Stimmgabel’, es sind drei Sequenzen mit unterschiedlicher Temperatur, Emotionalität, Dunkelheit und Helligkeit.»

Ganz schön kompliziert, wenn man das so hört. Kompliziert, wie das Leben selbst und was es mit uns macht.

Für Evgeny Titov war es nicht die erste Begegnung mit Eötvös’ «Drei Schwestern». «Als ich Student war, habe ich eine Aufführung in Wien gesehen. Und es ist doch interessant: Da siehst du etwas und denkst, das werde ich wohl nie gebrauchen können, und zehn Jahre später denkst du: Das habe ich damals gesehen! Das Leben ist doch verrückt!» 

Herangehensweise

Und wie ist er nun an diese Eötvös-Version der «Drei Schwestern» bei seiner eigenen Inszenierung herangegangen? «Ich wusste ja, dass es verrückt ist, aber inzwischen verstehe ich die Struktur. Ich wusste, dass es keine klassische Handlung ist wie ‘Lucia di Lammermoor’ oder ‘Don Carlos’ mit einem klaren Anfang und Ende. Ich wusste, es ist eine komplexe Struktur, und bei den ‘Drei Schwestern’ war es so (er holt ganz tief Luft) …, dass ich es einmal gehört habe und am nächsten Tag habe ich nach anderthalb Stunden im Geist alles gesehen, alle Elemente … wirklich irre … Es kam wie eine Vision, ich habe das Bühnenbild gesehen, ich habe die Welt gesehen … Es gibt Opern, bei denen ich mir den Kopf zerbreche, wie es ich lösen soll …, aber Eötvös, Tschechow, das ist einfach meins … Tschechow ist für mich das Grösste.»

Und wie kam er mit der Musik zurecht?  «Ich finde die Musik grandios! Ich finde die Musik genial … phantastisch! Aber ich reagiere so, weil ich die Musik richtig kennengelernt habe … man versteht sie und verliebt sich. Es ist nichts Oberflächliches, wo man sagt: Ahh ich bin verliebt, weil die Frau so toll aussieht und ein rotes Kleid anhat, I love you. Nein, überhaupt nicht. Man darf sich nicht auf das Äusserliche konzentrieren. Es ist wie bei Saint-Exupéry: Das Wichtigste kann man nicht mit den Augen sehen …»

Evgeny Titov ist schon vor der Premiere völlig hingerissen von Eötvös’ «Drei Schwestern». Ganz offensichtlich ist diese Produktion auch für ihn äusserst spannend. «Ja, da kann man hundert Opern inszenieren, aber ob man so etwas noch einmal erlebt …?» Er meint dies im Unterschied zu etablierten, gängigen Opern, die natürlich auch grossartig seien, wenn man sie in Salzburg inszenieren dürfe, aber deren Struktur sei schon stärker vorgegeben, man könne «die ‘Räume’ nicht mehr öffnen», wie er es nennt.

Was bei Tschechow und Eötvös gleich  bleibt, ist das «Traumziel Moskau». Für Titov ist dies auch ein Element, das ihn auch ganz persönlich berührt. «Seit 2015 war ich nicht mehr in Russland. Vielleicht komme ich nie wieder nach Moskau. Das ist dieser politische Kontext, den ich sehr sichtbar mache. Bei Tschechow ist es aber etwas anderes, etwas Existenzielles: Wenn wir klein sind, geht es uns meistens gut. Wir haben schöne Erinnerungen und Moskau steht für Ort und Zeit, in der wir uns wohl gefühlt haben. Da heisst es: ‘Wir waren so glücklich, Mama war noch am Leben, wir gehen da hin und es wird wieder genau so.’ Es wäre interessant, ein Stück über die drei Schwestern zu schreiben, die tatsächlich nach Moskau zurückkehren und dann ernüchtert sagen: Moskau ist brutal und kalt …!  Denn ‘Moskau’ ist ein Zustand, ein Ort, ein Traum … der Wunsch, glücklich zu sein.»

Und noch etwas anderes, so Titov, schwingt mit in dem Stück. «Morgen! Morgen fange ich ein neues Leben an. Morgen ziehe ich um. Morgen kündige ich den Job. Morgen mache ich alles neu … Dann stehst du zwanzig Jahre später da und sagst: Ok, ich bin nicht der grösste aller Professoren geworden, ich habe nichts aus meinem Leben gemacht …, aber genau das ist das Leben. Das Leben ist brutal. Das Leben ist gross und fährt wie in Bulldozer über einen hinweg. Aber das ist das Leben! Nur wenige von uns schaffen, das umzusetzen, was wir uns wünschen.»

Drei Schwestern
Von beklemmender Aktualität: Tschechows «Drei Schwestern» auf der Opernbühne (Foto ©sf-monika-Rittershaus)

Trümmerhaufen

Evgeny Titov geht völlig auf, wenn er über die «Drei Schwestern» spricht, über die von Tschechow, aber auch über die von Eötvös. Über diesen Trümmerhaufen, der sich auch buchstäblich auf der Bühne der Felsenreitschule ausbreitet. «Das Leben nimmt sich, was es nimmt … aber du nicht immer. Natürlich ist es traurig, wenn Irina sagt, gut, dann werde ich Lehrerin und bleibe unverheiratet, und Mascha sagt, ich bleibe halt bei meinem Mann. Und was hindert sie, dies zu ändern? Das, was uns immer hindert: wir selber. Wenn du nach Moskau willst, dann fahr hin! Aber wir sind nur Menschen und scheitern an unserem Mensch-Sein.»

All diese philosophischen Überlegungen hat Evgeny Titov grandios in die Trümmerlandschaft eingebaut. Musikalisch umgesetzt von vier grossartigen Countertenören und dem Klangforum Wien.

Das Publikum hat mit grossem Applaus begeistert reagiert und für die Kritik ist es schon bei Halbzeit in Salzburg eine der besten Aufführungen dieser Festspiele.

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