Nicht nur in der Debatte um den Eigenmietwert wird dem Stimmbürger gerne vorgerechnet, was er finanziell in seiner Lage von der Vorlage hat. Immer mehr wird das Stimmvolk in Interessengruppen aufgeteilt. Doch Ausgleich und Kompromiss wären vonnöten.
Es ist eine schön gestaltete Werbeschrift zur Abstimmung vom 28. September. Man sieht ein Kind, das an eine Tafel ein Haus gezeichnet hat. Darüber die Slogans «Eigenmietwert abschaffen», und, abgestimmt auf meinen Kanton: «Appenzellerland entlasten». Im Innern des Faltprospekts dann einige Stimmen und ein wenig Information.
Dazu Beispiele. «Familie Schläpfer möchte in Gais eine Wohnung kaufen», «Frau Inauen (78) muss ihre Wohnung verlassen». Und eine Warnung: «Wird der Eigenmietwert nicht abgeschafft, geht es nicht einfach so weiter wie bisher. Künftig werden die Eigenmietwerte massiv steigen.» Und ein Lockmittel: «Junge Familien, Mieter, Ersterwerber – es profitieren alle!» Wobei es bei den Mietern nur jene sind, die «Wohnträume» hegen. Aber gut, das ist ein Detail. Auch fehlt ein Hinweis auf die Kosten der Vorlage – 1,8 Milliarden im Jahr beim aktuellen Stand der Hypothekarzinsen.
Ein Volk aus lauter Interessengruppen
Was nicht nur hier auffällt, sondern auch in vielen anderen Debatten: Das Stimmvolk wird gerne in Gruppen aufgeteilt. Junge, Rentner, Familien, Stadt- und Landbewohner, Mieter, Hausbesitzer, Arme, Wohlhabende: Es gibt «die Schweiz» nicht mehr, «das Volk» ist in die Folkloresendungen und in den Sport abgewandert. Wir sind ein Volk aus lauter Interessengruppen geworden. Die jetzt von der jeweiligen Propaganda dazu erzogen werden, nicht auf die eigene Überzeugung, sondern weit mehr aufs eigene Portemonnaie zu schauen. Was zur ketzerischen Frage führt: Sind unsere Überzeugungen am Ende ins Portemonnaie abgewandert? Oder ins Smartphone, mit dem wir mittlerweile digital modern zahlen?
Gefördert wird diese Entwicklung dadurch, dass immer hurtig die Statistiker zur Stelle sind. Es gibt arme Rentner, also warum nicht eine dreizehnte AHV-Rente beschliessen? Das tut allen gut, ausser der Bundeskasse (die dann, aber erst später, von den Steuerzahlern wieder geäufnet werden muss). Gerechtigkeitsfragen werden aufgeworfen und mit flotten Etiketten versehen. «Heiratsstrafe» zum Beispiel, womit gemeint ist, dass in der Schweiz Verheiratete unter bestimmten Umständen bei den Steuern schlechter gestellt sind als unverheiratete Paare. Schon nimmt eine Debatte darüber Fahrt auf, dass die Ehepaar-Rente heute auf maximal 150 Prozent der Normalrente limitiert ist. Warum sollen sie nicht mehr bekommen? Oder, eine andere Frage, an der schon herumgerechnet wird: Sollte man Ehepartner separat besteuern? Wem bringt das etwas, wem nicht?
Zur Erinnerung: die «Willensnation»
Ja, wem bringt das etwas? Was bringt das mir? Was habe ich davon? Das wird mit Vorliebe diskutiert in einem Land, das, wie der amerikanische Handelsminister gerade gallig (und geldgierig) festgestellt hat, zwar von bescheidener Grösse, aber ziemlich reich ist. Und so wird mir, von Abstimmung zu Abstimmung, gerne vorgerechnet, wo meine Vorteile liegen, wenn ich mit Ja stimme. Aber ist das alles? Darf das alles sein?
Wir sind ja, dies zur Erinnerung, eine «Willensnation». Geeint nicht durch eine gemeinsame Sprache oder Kultur, sondern durch historische Erfahrung, der im Innern eine ausserordentliche Vielgestaltigkeit gegenübersteht. Wir sind ein Land aus lauter Minderheiten, das grossen Wert legt auf die vielen Unterschiede. Und auf die in der direkten Demokratie per Volksabstimmung immer wieder geübte Kunst, auseinanderstrebende Interessen in Kompromissen so zu verbinden, dass keine allzu scharfen Gegensätze entstehen. Das setzt ein hohes Mass an Toleranz voraus.
Warum Toleranz nicht gratis ist
Diese Toleranz ist nicht gratis zu haben, wir haben sie in Jahrhunderten teils heftiger Konflikte mühsam lernen müssen. Diese Toleranz ist auch eine wichtige Basis dessen, was man als das ökonomische Erfolgsmodell Schweiz bezeichnen kann. Denn sie bedeutet auch: Ich, der Stimmbürger, die Stimmbürgerin, muss gegebenenfalls auch bereit sein, über den eigenen Schatten zu springen. Also etwa, um beim Beispiel der Abschaffung des Eigenmietwerts zu bleiben, mich auch als Wohnungs- oder Hausbesitzer fragen, ob die Vorlage nicht eine Ungerechtigkeit gegenüber den Mieterinnen und Mietern darstellt.
Das ist natürlich nicht das, was populistische Politiker und Parteien gerne tun. Sie setzen auf Spaltung, nicht auf das Verbindende, beschwören Gegensätze herauf und sind einem Freund-Feind-Denken verhaftet, das keiner Gesellschaft guttut. Das aber weltweit grassiert. Die Schweiz tut gut daran, sich von solchen Strömungen abzugrenzen – nicht nur am 28. September.