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«In America voglio andare» – das Los vieler

9. Februar 2025
Carl Bossard
Val Bavona
Im Val Bavona, dort, wo das Tal eng ist, der Berg steil, die Naturgefahr gross und das Kulturland rar (Foto: Fondazione Valle Bavona)

Kalifornien war das Traumland vieler. Zu Tausenden sind Schweizer nach 1850 dorthin ausgewandert. Auch aus den armen Tessiner Tälern. Ein Augenschein im herben Hinterzimmer des Tessins, im Maggiatal und im Val Bavona.

«Auf und davon!», so heisst eine beliebte SRF-Sendung. Sie porträtiert Personen, die auswandern und in der Fremde einen neuen Anfang wagen. Ein anderes, ein besseres Leben beginnen: Davon träumen viele und verlassen ihre Heimat. Das gilt heute, das galt damals. Lange Zeit war die Schweiz ein Auswandererland. Armut, Hunger und Not trieben viele in die Emigration – als Zuckerbäcker, als Kaminfeger, als Stallknecht.[1] Allein zwischen 1850 und dem Zweiten Weltkrieg kehrten rund 30’000 Tessiner ihren kargen Bergtälern den Rücken und wanderten nach Kalifornien aus. «In America voglio andare», hiess die Devise. «Auf und davon!»

Nur wenige fanden das grosse Glück

Zusätzlich sind im gleichen Zeitabschnitt etwa 12’000 Tessiner nach Südamerika emigriert, dazu rund 2’000 als Goldschürfer nach Australien ausgewandert – für eine zermürbende Arbeit in den «goldfields». Doch nur wenige fanden das grosse Glück, vielleicht jeder Dreissigste.[2] Sie haben Geld ins Tessin geschickt oder bei ihrer Rückkehr heimgebracht. 

Die anderen verbrannten ihre besten Lebensjahre als Hilfskräfte oder Knechte auf irgendeiner Ranch – entwurzelt und geplagt vom Heimweh, dieser typischen Schweizer Krankheit. Nicht umsonst heisst sie «Morbus helveticus». «In Amerika trugen wir Auswanderer unser Heimweh wie eine Krankheit in uns herum», erzählt ein Tessiner Emigrant.

Die Seele des Tessins verstehen

Es war ein Massenexodus in Raten, eine Art Ausbluten der Heimat, meist begründet mit existenzieller Not. Alles junge Männer! Das hatte Folgen: Um 1900 waren die Hälfte der Frauen im Maggiatal Singles – europaweit ein einmaliges Phänomen. In seinem Roman «Nicht Anfang und nicht Ende» schildert der feinfühlige Tessiner Schriftsteller Plinio Martini (1923-1979) diese Auswandererzeit.[3] Wer die Seele des Tessins und das Leben in seinem Hinterzimmer verstehen will, findet bei ihm einen berührenden Zugang.[4]

Protagonist dieses Romans ist der Bergbauer und Auswanderer Gori Valdo. Martini lässt seine fiktive Figur sagen: «Zu meiner Zeit [in den 1920er-Jahrend] pflegten von Cavergno alljährlich drei, vier Burschen oder mehr auszuwandern. Das Dorf wurde immer magerer, wie ein Mensch, der einen Bandwurm hat. Wir merkten es in der Kirche an den Lücken in den Sitzreihen. Die Männer litten draussen in der Welt an Heimweh, die Mädchen sassen daheim und wurden alt. So war es in allen Tälern; je höher man hinaufkam, desto mehr verfallende Häuser konnte man sehen, und die wenigen Frauen, denen man in den Gässchen begegnete, hatten verhärmte, vorzeitig gealterte Gesichter.»

Das hat sich dann ab den 1950er-Jahren beschleunigt; ganze Dörfer, auch traditionsreiche, sind einfach aufgegeben worden. Abertausende von Maiensässen sehen – wie stumme Denkmäler – ihrem Verfall entgegen. Was bleibt, sind die Bergwege und Treppen hinauf zu den alten Hungeralpen. 

Val Bavona
Das steil-steinige Val Bavona (Foto: Fondazione Valle Bavona)

Das Leben in einer engen, kargen Welt 

Doch warum ist Gori aus dem Val Bavona weggezogen und nach Kalifornien ausgewandert?  Das wenige Vieh und die paar Geissen, die kargen Äcker, die mageren Matten und die Kastanienwälder – das alles hat nicht genug hergegeben, um die grossen Familien zu ernähren. Das Val Bavona war «bis in den letzten Winkel blankgeputzt […] wie die Essschale eines Hungernden», heisst es bei Plinio Martini. Mit anderen Worten: Die Leute haben diesem unwirtlichen Land zwischen den Felsen den letzten Quadratmeter Fläche abgerungen. Bis weit hinauf – auf die sogenannten «Alpe di fame», die Elendsalpen auf über 2’000 Meter Höhe. 

Oder unten im Tal: Sogar auf Felsbrocken entstanden sogenannte «prati pensili», eine Art hängender Gärten. Mit Körben trug man Humus hinauf und konnte so etwas Gras oder Gemüse wachsen lassen. Damit haben die Bergbauern das kleine Stück Land vor möglichen Überschwemmungen geschützt, vor dem Fluss mit seinen schrecklichen Launen, und natürlich auch vor gefrässigen Geissen und Schafen. Im Val Bavona gibt’s rund 200 beackerte Felsblöcke. 

«Prato pensile»
Ein «prato pensile»: auf Felsblöcken wurde ein (Ring-)Mäuerchen errichtet – und dann in harter Knochenarbeit Humus aufgeschüttet, um so etwas Wiesen- und Gartengrund zu gewinnen. (Foto: Fondazione Valle Bavona)

Und es hat doch nicht für alle gereicht.

Emigration in eine weite, verlockende Welt 

Wer ins Erwachsenenalter kam, hat darum häufig das Tal verlassen und das Glück in der Fremde gesucht, meist in Übersee. Das Sehnsuchtsland Amerika mit Kalifornien wirkte wie ein Magnet – von früher Jugend an.

Dazu Gori: «Abends auf der Alp nach dem Melken, an den Winterabenden zu Hause vor dem Kamin, hörten wir von klein auf immer die gleichen Geschichten: Rom, Frankreich, Holland, Australien, Argentinien, Kalifornien – die ganze Welt zog an unseren weitaufgerissenen Augen vorbei, und Amerika war stets das letzte, was in unseren [müden] Köpfen haften blieb; und dann ins Bett, um von den abenteuerlichen Ländern zu träumen, wo das Gold auf der Strasse liegt und man zum Frühstück Beefsteaks isst. Wir träumten auch von der Heimkehr. Man springt aus dem Zug: «Well, eccomi di nuovo, da bin ich wieder!» Beim Springen hört man die Dollars in deiner Tasche klimpern, und jeder, der dich sieht, weiss, was die dick geschwollene Brieftasche unter deiner Jacke bedeutet. Ob ich ihn kenne, diesen Traum!»

Der Traum des Viehhirten oder Rangers, der reich ins arme Tal zurückkehrt. Dalle stalle alle stelle – die Hoffnung vom grossen Glück.

Drittklass-Zwischendeck für die Auswanderer

Doch das Auswandern war schon damals kostspielig. Vielfach nahmen Eltern oder Verwandte ein Darlehen auf und verpfändeten dafür Land und Stallgebäude. Schiffshäfen wie Hamburg lagen weit entfernt und waren nur zu Fuss erreichbar. Die Leute hockten «zusammengepfercht in stinkenden, verlausten Laderäumen». Die Fahrt auf den engen Dreimastern glich einer Tortur, der Start in der Fremde einem ungewissen Abenteuer.

Werbeplakat für Auswanderer
Werbeplakat für Auswanderer (Bild: zVg)

Etwas einfacher wurde die Emigration erst nach Mitte des 19. Jahrhunderts – dank dem Aufkommen von Eisenbahn und Dampfschiff mit extra eingebautem Drittklass-Zwischendeck für die Auswanderer, wie wir es von der Titanic-Tragödie 1912 her kennen. Die Überfahrt nach Amerika hat sich beschleunigt, die Emigration vervielfacht.

Rückkehr in eine fremd gewordene Welt 

Zu den vielen Auswanderern zählt auch Gori aus dem Val Bavona. Mit zwanzig verlässt er sein Elternhaus und seine Verlobte Maddalena. Zusammen mit seinem Bruder bricht er 1929 nach Kalifornien auf. 

Zuerst wirkt er als Ranger auf der Farm eines Valmaggeser Landsmanns; er arbeitet sich zum Grundstück- und Häusermakler empor und macht reichlich Geld. «Hier in Amerika verdiente ich mit meiner Unterschrift auf einem Blatt Papier mehr, als meine Eltern in fünfzig Jahren zusammengekratzt hatten», erzählt er. In Kalifornien geht es ihm materiell gut. Wäre da nicht diese grosse Sehnsucht, dieses Heimweh! «Es gab, so lange ich in Amerika war, keinen einzigen Tag, an dem ich nicht mit einem tiefen Seufzer an unser Tal gedacht hätte.» 

Fast 20 Jahr später, 1946, kehrt Gori in sein Tal zurück. Doch nichts ist mehr, wie es einmal war. Maddalena ist tot, die Mutter behindert und der Vater alt und gebrechlich. Die Welt, die er in der Ferne voll Heimweh gesucht und ersehnt hat, existiert nicht mehr.

Leben in zwei verschiedenen Welten

Er findet ein verändertes Tal. Die Maggia-Kraftwerke mit dem blauen Gold prägen es und neue Verkehrsverbindungen, das Landleben ist dem Verschwinden nahe, entlegene Alpen verganden und werden den Disteln und Brennesseln überlassen. Gori «zieht nur [noch] einen Haufen Traurigkeit hinter sich her». Soll er bleiben oder sich in Genua wieder ins ungeliebte Amerika einschiffen? «Aufbrechen, zurückkehren, nicht mehr hier noch dort sein.» 

Weder im Heimatdorf noch in der Neuen Welt findet er ein Zuhause. Er lebt in zwei verschiedenen Welten und kann in keiner glücklich werden. «Ich muss mich abfinden», sagt er bei seiner Rückkehr aus Kalifornien: «Ich bin nur noch ein armer Mann, der ein Bündel Kummer mit sich herumschleppt.» Im Zweispalt. Weder hier noch dort. Getrieben, «unbehaust» – wie die Figur des Tannhäuser von Richard Wagner.

Zeitskizze vom Damaligen fürs Gegenwärtige

Fernweh und Heimweh, Erwartung und Erinnerung in einem. Die Sehnsucht nach dem Neuen und das Geborgenheitsgefühl im Vertrauten. Der Mensch trägt beides in sich. Er ist kein Entweder-oder-Wesen – auch wenn er manchmal eine solche Klarheit herbeisehnt. Er ist immer ein Sowohl-als-auch. Er ist beides in einem: Goethes «zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust»! Manchmal droht uns das zu zerreissen – wie bei Gori Valdo und manchem Auswanderer: Viele haben ihr Daheim verwünscht und sich gleichzeitig in der Ferne fremd gefühlt; sie haben mit ihrem Schicksal als Talbewohner gehadert, und gleichzeitig sind sie an ihrer engen Heimat gehangen. Das Ambivalente in uns Menschen!

Was an dieser «Geschichte vom Wegzug und der Rückkehr» so berührt, ist die Menschlichkeit, mit der Plinio Martini die Leute beschreibt und ihr Leben dokumentiert. Mit seinem Werk hat er «etwas vom Schönsten geschaffen, was die Literatur der italienischen Schweiz hervorgebracht hat».[5] Als Zeitskizze vom Damaligen fürs Heutige, fürs Gegenwärtige.

[1] Zur Auswanderung aus der Schweiz vgl.: André Holenstein, Patrick Kury, Kristina Schulz (2020). Schweizer Migrationsgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Baden: Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte.

[2] Vgl. Giorgio Cheda (1981), L’emigrazione ticinese in California. 2. Bde. Locarno: Armando Dado.

[3] Plinio Martini (1974), Nicht Anfang und nicht Ende. Roman einer Rückkehr. Aus dem Italienischen übertragen von Trude Fein. Zürich: Werner Classen Verlag. Der italienische Titel heisst: «Il fondo del sacco». Die Zitate stammen aus diesem Buch. Neuauflage: Limmat-Verlag, Zürich 2023. Erstaunlich, dass Charles Linsmayer Plinio Martini nicht in sein Buch «20/21 Synchron. Ein Lesebuch zur Literatur der mehrsprachigen Schweiz von 1920 bis 2020» aufgenommen hat, obwohl sich Ausschnitte und Porträts von 135 Autorinnen und Autoren aus allen Landesteilen finden.

[4] Alexander Grass, [Plinio Martini:] Älpler Christ Marxist, in: DIE ZEIT, 03.08.2023, S. 16

[5] Roman Bucheli, Sie verwünschten und liebten ihr Tal, in: NZZ, 04.08.2023, S. 3.

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