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Gazakrieg

«50’000 Tote in Gaza sind notwendig»

18. August 2025
Ignaz Staub
Ignaz Staub
Gaza Nahrungsknappheit
Palästinenserinnen kämpfen um gespendetes Essen in einer Gemeinschaftsküche im Norden des Gazastreifens. (Keystone/AP Photo, Jehad Alshrafi)

Israels Krieg in Gaza kennt nicht nur physisch, sondern auch rhetorisch keine Grenzen. Beispiele dafür haben jüngst der Ex-Chef des militärischen Nachrichtendiensts und in den USA eine MAGA-Ikone und Trump-Einflüsterin geliefert. Empathie für Gazas Kinder zeigen sie keine – im Gegenteil.

Ex-General Aharon Haliva war am 7. Oktober 2023, dem Tag des Massakers der Hamas im Süden des Landes, Chef des militärischen Nachrichtendiensts der israelischen Armee (IDF). Der als moderat geltenden 57-Jährige ist in Israels Mitte-Links-Lager eine wohlgelittene Figur und ein Kritiker von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und dessen beiden rechtsextremen Ministern Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir. 

Doch Aharon Haliva, so meint Gideon Levy in der Zeitung «Haaretz», denkt und spricht genau wie seine politischen Gegner: «Am Ende des Tages befürworten sie alle einen Genozid. Der Unterschied ist einzig zwischen jenen, die das zugeben, und jenen, die das verneinen.» Haliva, weder religiös noch messianisch, sei, so der Journalist, schlicht ein netter Junge aus Haifa und dem besseren Viertel Tzahala in Tel Aviv: «Generalmajor Haliva hat die Wahrheit des Mainstreams verraten, nicht nur des Mainstreams in der Armee, sondern jenes in der israelischen Gesellschaft ganz allgemein.»

«Sie brauchen eine Nakba»

In «während den letzten Monaten aufgezeichneten» Gesprächsausschnitten, die der Fernsehsender «Channel 12» am Wochenende ausgestrahlt hat, äussert sich Aharon Halevi zur Notwendigkeit des Krieges in Gaza: «Die Tatsache, dass es in Gaza bereits 50’000 Tote gegeben hat, ist notwendig (…) Für jedes Opfer des 7. Oktobers müssen 50 Palästinenserinnen und Palästinenser sterben. Spielt keine Rolle, wenn das Kinder sind. Ich rede nicht aus dem Gefühl der Rache, sondern überbringe eine Botschaft für künftige Generationen.» 

Der Moderator und zwei Korrespondenten des privaten TV-Senders gingen nicht näher auf Halevis Kommentar ein; er war für sie offenbar selbstverständlich. Und auch das: «Sie (die Palästinenserinnen und Palästinenser) brauchen von Zeit zu Zeit eine Nakba, um den Preis zu spüren.» Mit Nakba ist die Vertreibung und die Flucht von 700’000 Menschen nach der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 gemeint. «Channel 12» teilte nicht näher mit, wie der Sender an die Gesprächsaufzeichnung gekommen war. «Haaretz» zufolge war es für den Ex-General wohl eine Möglichkeit, «ein Interview zu geben, ohne tatsächlich interviewt zu werden».

«Genozid als Ziel»

In Israels übrigen Mainstream-Medien waren Halevis Äusserungen kein Stoff für Schlagzeilen. Sie konzentrierten sich auf seine ebenfalls geäusserte Kritik an Premier Netanjahu und seine Warnungen vor einem systematischen Versagen von Sicherheits- und Geheimdienstkreisen. «Was macht man mit einer Armee, deren Kommandanten zugeben, einen Vernichtungskrieg zu führen?», fragt Gideon Levy. «Wie lebt einer mit dem Gedanken, dass Völkermord das ursprüngliche und wichtigste Ziel dieses Krieges gewesen ist? Nicht irgendein Genozid, sondern einer, den es alle paar Jahre zu begehen gilt?» 

Auf Gazas Kinder nimmt nicht nur die IDF keine Rücksicht: Das US-Aussenministerium hat am Wochenende auf X mitgeteilt, es würde zumindest vorläufig keine Besuchervisa mehr für Menschen aus Gaza ausstellen, d. h. auch für Kinder nicht, die in den USA dringend nötige medizinische Behandlung erhalten. Der Entscheid erfolgte, nachdem MAGA-Aktivistin Laura Loomer die Visa-Praxis des State Departments in den sozialen Medien wiederholt als «Bedrohung der nationalen Sicherheit» kritisiert hatte. 

«Dschihadi-Rufe»

Die eingefleischte Trump-Anhängerin und Influencerin teilte angeblich exklusive, aber öffentlich zugängliche Videos, laut denen verwundete palästinensische Kinder und deren Familien bei ihrer Ankunft in Houston und in San Francisco nicht einfach nur Freude geäussert, sondern mit «Dschihadi»-Rufen den Terror der Hamas gepriesen hätten. 

Loomer nannte Kinder, unter ihnen Amputierte, die Beinprothesen erhalten sollten, «islamische Invasoren aus einer Hot-Zone des islamischen Terrors» und fragte, warum das Aussenministerium Visa an Individuen erteile, die in Gaza lebten, das von der Hamas kontrolliert werde: «95 Prozent der Leute in Gaza haben für die Hamas gestimmt.» – In Tat und Wahrheit hatte die Hamas 2006 bei den Legislativwahlen 44 Prozent der Stimmen erhalten und war in drei von fünf Bezirken der gemässigten Fatah unterlegen. 

«USA nicht Spital der Welt»

«Das sind fantastische Neuigkeiten», jubilierte Laura Loomer nach Bekanntwerden des Entscheids des Aussenministeriums in Washington DC: «Hoffen wir, dass nun alle Leute in Gaza unter Präsident Trumps Reiseverbot fallen.» Es gebe, so die 32-Jährige, auch in anderen Ländern Ärzte: «Die USA sind nicht das Spital der Welt.»

«Wenn Laura Loomer in den 1940er-Jahren gelebt hätte, sie hätte versucht, jüdische Flüchtlinge daran zu hindern, in die USA zu kommen. Du weisst, dass sie es getan hätte», schrieb in der Folge auf X Paul Graham, Co-Gründer des Startup-Inkubators «Combinator» im Silicon Valley: «Und wenn Trump damals Präsident gewesen wäre, wäre es ihr auch gelungen.»

Der Council on Islamic-American Relations (CAIR) erklärte, der Viastopp sei «das jüngste Indiz dafür, dass die absichtliche Grausamkeit der ‘Israel First’-Regierung Donald Trumps keine Grenzen kennt.» Es sei, so CAIR, «zutiefst ironisch», dass das Weisse Haus gleichzeitig «den roten Teppich für Rassisten und verurteilte Kriegsverbrecher aus der israelischen Regierung» ausrolle.

«Keine Kindheit mehr»

Währenddessen hat die «New York Times» vergangene Woche unter dem Titel «Das Trauma der Kindheit in Gaza» einen längeren Artikel über das Schicksal der Kinder im Küstenstreifen publiziert: «Nach 22 Monaten Krieg gibt es in Gaza kaum mehr so etwas wie eine Kindheit.» Seit Beginn der Militäroperation Israels nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 sind in Gaza mehr als 18’000 Kinder unter 18 Jahren getötet worden. Mindestens 40’000 Kinder haben gemäss der Palästinenserbehörde (PA) in Ramallah seit Kriegsbeginn einen Elternteil verloren.

Am vergangenen Samstag tötete die israelische Armee (IDF) bei einem Luftangriff auf ein Zelt in al-Muwasi im Süden Gazas ein zweieinhalb Monate altes Mädchen und seine Eltern. Dies in einer Zone, welche die IDF als «humanitär» deklariert hatte. Die Armee teilte mit, sie könne den Vorfall nicht kommentieren, ohne nähere Einzelheiten zu kennen. Gleichentags wurden laut den palästinensischen Behörden mindestens 13 Menschen erschossen, die vor Verteilstellen für Nahrungsmittelhilfe anstanden. Innert 24 Stunden desselben Zeitraums starben 11 Personen, unter ihnen mindestens ein Kind, an Mangelernährung.

1,1 Millionen hilfsbedürftige Kinder

Der «New York Times» zufolge leben rund 1,1 Millionen Kinder in Gaza und fast alle benötigen laut Uno-Angaben psychiatrische oder psychosoziale Unterstützung. Die meisten unter ihnen sind seit zwei Jahren nicht mehr zur Schule gegangen. «Normale Eckpunkte einer Kindheit sind verschwunden und durch Hunger, Furcht und ein alles überwältigendes Trauma ersetzt worden», sagt Unicef-Sprecher Jamals Elder, der Gaza wiederholt besucht hat: «Dieser Krieg wird geführt, als ob selbst die Kindheit in Gaza keinen Platz hätte.» Die IDF lassen verlauten, «absichtlicher Schaden an Zivilisten und insbesondere an Kindern» sei strikt verboten und widerspreche völlig sowohl internationalem Recht wie verbindlichen Befehlen der IDF. 

Der zehnjährige Sajed al-Ghalban in Khan Younis hat beide Eltern verloren. Sein Vater Mohammed und seine Mutter Shireen starben 2023 in der dritten Woche des Krieges bei einem Luftangriff auf ihr Haus im Süden Gazas, das der IDF zufolge für «Terrorzwecke» benutzt worden war. Ob Mohammed al-Ghalban Ziel des Angriffs gewesen war, mochte die israelische Armee nicht kommentieren. 

Eine überlebende Tante der beiden Kinder sagte, Sajeds Vater habe keine Kontakte zu Terrorgruppen unterhalten. Nach dem Luftangriff kümmerte sich eine andere Tante um Sajed und seinen jüngeren Bruder Abdallah, bis im Juli auch die Verwandte bei einer Attacke auf ihr Zelt getötet wurde – einem Angriff, der beide Knaben verwundete. Der IDF zufolge galt auch dieser Luftangriff der Hamas.

Ein Lager für 1’200 Waisen 

Sajed lebt heute in einem Lager, das rund 1’200 Waisen beherbergt und das lokale Freiwillige leiten. Der Knabe befinde sich, berichtet die «New York Times», irgendwo zwischen Kindheit und frühem Erwachsenwerden. Er vermisse die Süssigkeiten, die er vor dem Krieg gegessen hätte, er vermisse es, mit seiner Mutter in der Küche zu stehen, und er vermisse es, mit seinem Vater in den Park zu gehen. Er wolle aber auch Dinge machen, die in Gaza Männer machten: zum Beispiel allen tödlichen Risiken zum Trotz Nahrung suchen gehen oder Hilfskonvois bewachen helfen. «Ich will nach Hause gehen, zur Schule gehen», sagt der Zehnjährige: «Ich will einfach, dass der Krieg aufhört.»

Währenddessen protestierten und streikten in Israel am Sonntag Hunderttausende gegen die Pläne der Regierung Benjamin Netanjahus, die Kontrolle über den ganzen Gazastreifen zu übernehmen und rund eine Million Menschen aus Gaza City erneut umzusiedeln – ein Vorhaben, dessen Umsetzung laut Angaben der israelischen Armee in mehreren Phasen erfolgen und rund vier Monate dauern soll.

«Genug ist genug»

Die protestierenden Israelis forderten die Freilassung der 50 lebendig oder tot in Gaza verbliebenen Geiseln und ein Ende des 22-monatigen Krieges. «Genug ist genug», sagte in Tel Aviv die Ärztin Aya Shilon-Hadass: «Du kannst keine Gesellschaft oder kein Vertrauen aufbauen, wenn unsere Brüder und Schwestern im Stich gelassen werden, während das Blutvergiessen auf beiden Seiten anhält. Der Krieg muss aufhören.»

Premier Netanjahu dagegen sagte, die Proteste würden den Krieg nur verlängern: «Jene, die heute ein Ende des Krieges fordern ohne die Niederlage der Hamas, stärken nicht nur die Stellung der Hamas und schieben die Freilassung unserer Geiseln weiter hinaus, sie stellen auch sicher, dass sich die Grausamkeiten des 7. Oktobers wiederholen und wir einen endlosen Krieg führen müssen.» 

Quellen: Haaretz, The Washington Post, The New York Times, The Guardian, BBC

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