Von der Astronomie, deren Massstäbe mit Milliarden Jahren rechnen, bis zur Millisekunde im Highspeed Trading an den heutigen Börsen rollt das Kunsthaus ein weites Panorama der Zeitvorstellungen aus. Was dabei zu kurz kommt, ist die Kunst.
Drei Jahre Arbeit hat die Kuratorin Cathérine Hug in die Vorbereitung der Ausstellung «Zeit. Von Dürer bis Bonvicini» gesteckt. Der Entscheid für das Projekt fiel also noch in der Zeit von Direktor Christoph Becker, der gerade vor einem Jahr seiner Nachfolgerin Ann Demeester Platz gemacht hat.
Ein dreijähriger Vorlauf ist für eine grosse Ausstellung gewiss nicht ausserordentlich lang, doch hier hat es schon einen Grund, wenn das Kunsthaus speziell darauf hinweist. Die «Zeit»-Schau ist als Themenausstellung des Typus «Kunst und …» in besonderem Mass kuratorisch geprägt. Cathérine Hug hat hier Inhalt, Fokus, Exponate und Inszenierung in einer Weise vorgegeben, die allein der Logik des Themas folgt. Der Kunst ist ihr Eigen-Sinn ausgetrieben, sie muss dem Gestaltungswillen der Kuratorin dienen.
Inhalt, Fokus, Exponate und Inszenierung sind in einer Weise vorgegeben, die allein der Logik des Themas folgt. Der Kunst ist ihr Eigen-Sinn ausgetrieben.
Mit diesem Vorrang der Ausstellungsgestaltung vor den ausgestellten Werken geschieht im Kunsthaus etwas Ähnliches wie beim Regietheater, wo die Spielleitung sich in einer Weise zwischen Werk und Publikum stellt, dass Letzteres sich gelegentlich bevormundet und um eine Begegnung mit dem originalen Werk betrogen fühlt.
Zugegeben, der Vergleich mit dem Regietheater hinkt ein wenig, denn die Exponate werden in der Ausstellung ja gezeigt. Es sind der Duktus der Schau und eine gewisse didaktische Penetranz, die an Muster des einseitig regiegetriebenen Theaters erinnern. Die Besucherin des Kunsthauses wird quasi an die Hand genommen, durch die sechs Kapitel der Schau geschleust, zum Lesen zahlreicher Erklärtexte angehalten und an einer Stelle gar gestupst, sich mit Handschellen an eine Kette zu legen, um nicht der Versuchung ungehöriger Eile zu erliegen.
Zu einem Kurzbesuch kann man in der Tat nicht raten. Das Thema «Zeit» braucht Zeit. Das dürfte für viele Besucher schon mal eine gewisse Zumutung sein. Angesichts dieser Schwierigkeit ist die Struktur, die Cathérine Hug gewählt hat, ein guter Wurf. Ihre Ausstellung führt von der astronomischen und geologischen Sicht («Deep time») zur Zeitlichkeit des Lebens («Biologische Perspektive»), behandelt die Geschichte der Zeitmessung («Ökonomische Perspektive»), geht weiter zur Verfügungsgewalt über die Zeit («Politische Dimension»), wirft einen Blick auf technologische Umwälzungen («Information Superhighway») und endet bei der Frage eines bewussten Umgangs mit Zeit («Eigenzeit»).
Diese sechs Kapitel sind abwechslungsreich aufgebaut. Ungewöhnlich für ein Kunstmuseum ist das Nebeneinander von Kunstobjekten und Uhren, viele davon aus dem grossartigen «Musée international d’horlogerie» MIH in La Chaux-de-Fonds. Dank der Verschiedenartigkeit der Exponate kann es durchaus sein, dass die Schau beim Publikum nicht so sehr als thematischer Parcours, sondern als eine Art Wunderkammer wahrgenommen wird, die mit undurchschaubarer Buntheit den Besuchern eine Kette von Überraschungen und eine angenehme Angeregtheit beschert.
Näher als der Vergleich mit barocken Wunderkammern liegt derjenige mit einem begehbaren TV-Feature oder populären Sachbuch. Eine Ausstellung im ehrwürdigen Kunsthaus als unterhaltend ablaufende Darbietung? Eine attraktiv aufgemachte Information zum Schmökern? Das dürfte durchaus so gewollt sein. Die Direktorin hofft denn auch, dass man gutgelaunt aus der Ausstellung herauskommt.
Eine unterhaltende Darbietung im ehrwürdigen Kunsthaus? – Ja, man soll gutgelaunt aus der Ausstellung herauskommen.
Wer mehr als gute Laune sucht, kann zum Katalog greifen. Nebst den Abbildungen der Exponate bietet er zu jedem der sechs Kapitel ausführliche Texte in Form des Berichts, des Essays oder des Gesprächs. Ein besonderes Highlight ist die Unterhaltung zwischen den beiden Philosophen Stefan Zweifel und Rüdiger Safranski. Doch leider erfährt man in diesem gewichtigen Band über die ausgestellte Kunst wenig. Mehr als die in der Ausstellung bei ausgewählten Exponaten angebrachten kurzen Texte gibt der Katalog nicht her. Das bestätigt den Eindruck, Kunstwerke seien hier lediglich Material, mit dem ein grosses Thema aufbereitet wurde.
Kunsthaus Zürich: Zeit. Von Dürer bis Bonvicini
kuratiert von Cathérine Hug
reichhaltiges Rahmenprogramm (siehe Website)
bis 14. Januar 2024
Katalog, erschienen bei Snoeck, Köln, 49 Franken