Die Demonstrationen an amerikanischen Universitäten haben einen einzigen Adressaten: Israel. Sie richten sich stets gegen diesen einen Krieg – als ob auf der Welt sonst nichts anzuprangern wäre. Die Fokussierung der Aktionen verrät viel über deren Hintergründe.
Seit Monaten machen amerikanische Elitehochschulen wie Harvard, Columbia oder Stanford mit Studentenprotesten Schlagzeilen. In jüngster Zeit ist der Aufruhr wieder bedrohlich eskaliert. An der Columbia University in New York hat die Polizei nach Hilferufen der Universitätsleitung das Campusgelände und nun auch die von Protestierenden besetzte Hamilton Hall geräumt.
Der Zorn der Demonstranten richtet sich gegen Israel und in kaum geringerem Mass auch gegen Joe Biden, der das Land, getreu der jahrzehntelangen amerikanischen Bündnispolitik, auch jetzt im Krieg gegen Hamas, Hizbollah und Iran unterstützt. In der Tat sind die Zustände im Gazastreifen unmenschlich, und man kann Biden vorwerfen, er übe auf die Regierung Netanjahu nicht genügend Druck aus, um diese zur Schonung der palästinensischen Bevölkerung zu veranlassen. Dass die Biden-Regierung sich aber mit grossem diplomatischem Aufwand für Verhandlungen zwischen Israel und Hamas und eine Beendigung der Gewalt einsetzt, kommt in der Protestbewegung offenbar nicht an.
Die grosse Masse der Studierenden ist ohne Wenn und Aber pro-palästinensisch eingestellt. Viele lassen ihrem Hass auf Israel freien Lauf. Jüdische Studenten werden bedroht und vereinzelt auch angegriffen. Die anti-israelische Grundstimmung ist zum Teil kaum mehr zu unterscheiden von antisemitischen Stereotypen.
Der Gazakrieg ist nicht nur für die demonstrierenden Studentinnen und Studenten Amerikas eine klare Sache. Proteste rund um die Welt stimmen ein in den Chor, der Israel verurteilt und für angeblichen Völkermord an den Pranger stellt. Für die pro-palästinensische Bewegung ist dieser Krieg Teil der kolonialen Verbrechen des weissen kapitalistischen Nordens gegen den globalen Süden.
Mit dieser ideologischen Einordnung des Konflikts ergeben sich sogleich Anknüpfungen an jenes identitäre Denken, das auf dem Campus Geburts- und Heimatrechte geniesst. Wer als nichtweisse oder queere Person in passiv erlittener Aus- und aktiv praktizierter Abgrenzung die eigene Identität bestimmt, erkennt in dem hier herrschenden Palästina-Narrativ die eigene Situation wieder. Und wer in postkolonialen, antirassistischen und gendersensiblen Diskursen gelernt hat, eine Identität des «Kontra» (wir gegen den Mainstream) anzunehmen, schlägt sich auch angesichts des Gazakriegs auf die Seite der Opposition.
Geschwiegen wird dabei nicht nur zum Terrorüberfall der Hamas, der am 7. Oktober 2023 den jetzigen Krieg ausgelöst hat. Auffällig ist auch die Exklusivität, mit der die organisierte Empörung auf den Gazakrieg fokussiert, und zwar nicht nur an amerikanischen Universitäten, sondern in Protestbewegungen weltweit. So demonstriert nach einer kurzen Phase des Schocks, den der russische Überfall vom 24. Februar 2022 auslöste, längst niemand mehr gegen diesen Krieg, obschon aus der Ukraine immer neue Schreckensmeldungen bekannt werden, die nicht weniger fürchterlich sind als die Verheerungen in Gaza. Auch die Kriege im Sudan, in Myanmar oder im Kongo treiben niemanden auf die Strasse oder den Campus, obschon sie seit vielen Jahren schreckliches Elend anrichten.
Das dröhnende Schweigen in der Protestszene ist zum Teil mit den Prioritäten der Medienberichterstattung zu erklären. Über Sudan erfährt man nur selten etwas, über Myanmar bis auf ein paar wenige Berichte gerade in jüngster Zeit sehr wenig und aus dem Kongo praktisch überhaupt nichts. Für den Ukrainekrieg hingegen trifft das nicht zu. Er hat in den Medien eine ähnlich starke Präsenz wie der Nahostkonflikt.
Warum also wird gegen Russland nicht ähnlicher Protest laut wie gegen Israel? Im Ukrainekrieg geht es im Wesentlichen um die Freiheit. Dieses Gut steht in den Debatten um Postkolonialismus, Rassismus und Genderthemen im generellen Verdacht, kapitalistische Interessen zu kaschieren und nur die Vorrechte des alten weissen Mannes zu verteidigen. Das Einstehen für Freiheit ist daher kein Thema, es bewegt nicht.
Umso mehr tut dies alles, was nach entsprechender Aufbereitung Zündstoff liefert für die angesagten Routinen des Denkens. Beim Nahostkonflikt besteht die inhaltliche Zurichtung darin, diesen in ein Nord-Süd-Schema einzupassen: Israel ist der aggressive Vorposten des kolonialistischen Nordens, und alle seine Gegner sind dessen Opfer.
Was nicht in dieses Muster passt, wird ausgeblendet. So etwa die Tatsache, dass zahlreiche Juden nicht aus dem «Norden» nach Israel eingewandert sind, sondern aus arabischen Ländern, in denen sie diskriminiert und teils auch verfolgt wurden. Gleiches gilt für das lange Zeit offenkundige Interesse arabischer Regime, die Palästinenser in einem Status heimatloser Flüchtlinge zu halten, um so die Israelfeindschaft in den arabischen Bevölkerungen am Kochen zu halten. Diese politische Emotion lenkt praktischerweise von Missständen in den eigenen Ländern ab und stabilisiert so die Herrschaftsverhältnisse. Auch scheinen die Protestierenden nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass über alles, was sie empört, in Israels vitaler Zivilgesellschaft mindestens ebenso engagiert gestritten wird – ein im Nahen Osten ziemlich einzigartiges Phänomen.
Ganz allgemein eignet sich der Nahostkonflikt wenig, um das postkoloniale Weltbild zu plausibilisieren. Dazu ist er historisch zu vielschichtig und in seiner aktuellen Erscheinung zu komplex. Umso stärker muss das Bild dieses Konflikts vereindeutigt und emotionalisiert werden, damit es die Proteste legitimiert und die Protestierenden in ihrer Identität als Kämpferinnen und Kämpfer für die gerechte Sache bestärkt. Die pro-palästinensischen Demos haben mit dem tatsächlichen Elend in Gaza und dem manifesten Unrecht auf der Westbank weniger zu tun als mit dem Wunsch der Demonstrierenden nach einer ihren Vorstellungen entsprechend sortierten Welt, die ihren Protest ins Recht setzt.