In jedem Langzeit-Konflikt spielen verfestigte Feindbilder eine verhängnisvolle Rolle. Eines davon ist dasjenige von Israel als einer illegitimen Besatzungsmacht, die allein schuld ist am fortgesetzten Elend der palästinensischen Bevölkerung.
Das Narrativ rabiater Palästina-Sympathisanten lässt sich etwa so resümieren: Nach dem Zweiten Weltkrieg wusste man in Europa nicht, wohin mit den Juden. Also unterstützte man ihre Ansiedlung in Palästina und machte sich so das Wunschziel der Zionisten einer Auswanderung ins Heilige Land zunutze. Unterstützt von der britischen Mandatsmacht sowie dem Völkerbund und später der Uno gebärdeten die jüdischen Einwanderer sich in Palästina als Kolonialherren, eigneten sich widerrechtlich das Land an und vertrieben die ursprüngliche palästinensische Bevölkerung, von der grosse Teile seit einem dreiviertel Jahrhundert in Flüchtlingslagern leben müssen. Diese jüdische Landnahme ist nicht nur weiter im Gang, sie wird von der israelischen Regierung mit ihrer Siedlungspolitik im Westjordanland sogar forciert. – So weit das sattsam bekannte Feindbild von Israel.
Diese Sichtweise enthält einiges Richtige – und gibt doch ein falsches Bild. Sie blendet aus, dass die Juden nicht in irgendein Land eingewandert sind, sondern in ihre Heimat. Ihr Volk hat dort über tausend Jahre gelebt und eine grosse Kultur geschaffen, bevor es von den Römern vertrieben wurde. Doch die jüdische Präsenz in jenem Land, das erst viel später Palästina genannt wurde, ist niemals erloschen. Es haben immer Juden dort gelebt, und es gab immer wieder Einwanderungswellen von Juden, die anderswo verfolgt wurden.
Erst als im 7. Jahrhundert der Islam expandierte, wurde Palästina mehrheitlich arabisch. Juden und Araber scheinen sehr lange Zeit einigermassen friedlich zusammengelebt zu haben. Einen tiefen Einschnitt bedeutete der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs, in welches Palästina bis 1917 einverleibt war. Die Briten als Siegermacht des Ersten Weltkriegs (die Osmanen waren mit dem Deutschen Kaiserreich verbündet gewesen) übten nun die Herrschaft über Palästina aus; seit 1922 taten sie es als offizielle Mandatäre des Völkerbunds. Der an Grossbritannien ergangene Auftrag lautete entsprechend der Balfour-Deklaration von 1917, es seien in Palästina die jüdischen Einwanderer anzusiedeln. Dabei müsse sichergestellt sein, dass die «Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina» nicht tangiert würden.
Es folgten verschiedene Versuche, erst der Briten und ab 1945 der Uno, Palästina in ein jüdisches und ein palästinensisches Staatsgebiet aufzuteilen. Keiner dieser Pläne erreichte die Zustimmung beider Seiten. Selbstverständlich hat jede von ihnen eine eigene Version, weshalb jeweils die angestrebte einvernehmliche Gebietsteilung gescheitert ist. Was die historischen Fakten jedoch nicht hergeben, das ist die Lesart von gewaltsamer, völkerrechtswidriger Besetzung eines genuin arabischen Landes durch fremde jüdische Einwanderer.
Es ist diese Verzerrung der Vorgeschichte des jüdischen Staates, die nicht nur generell die palästinensischen, arabischen, muslimischen, sondern auch viele linke und neuerdings postkoloniale Wahrnehmungen grundiert. Sie erzeugt jenes Feindbild, das noch vor der Beurteilung konkreter Taten stets zuschnappt.
An Israels Agieren in seiner Vorgeschichte und als Staat ist vieles zu kritisieren. Es sind nicht nur Israels Feinde und Kontrahenten, die es tun, sondern namentlich seine Bürgerinnen und Bürger, die als wache Zivilgesellschaft ihre Regierung, ihre Gerichte und ihre Armee im Auge behalten. Immer mal wieder werden sie laut und scheuen den Streit nicht. Mit dieser demokratischen Kultur steht Israel im Nahen Osten ziemlich einzig da. Trotz des Vormarschs religiöser und politischer Hardliner ist die zivile Qualität der israelischen Gesellschaft noch immer beeindruckend stark.
Bei den Palästinensern und ihren Verbündeten scheint ein solches Potenzial nach innen gerichteter Kritik an Führung und Institutionen wenig oder gar nicht vorhanden. Ob dies an einer Kultur der Unterwerfung oder an schlichter Unterdrückung liegt, ist schwer zu sagen. Zu erkennen ist jedoch, dass der Druck nach aussen abgelassen wird: in einer fanatischen Kultivierung und stets neuen Aufladung des Feindbilds Israel.
Der Hamas-Terror mit seinem unbedingten Vernichtungswillen ist die politische Vollstreckung des Feindbilds, aber nicht in unkontrollierter Emotion, sondern geleitet von zynischem Kalkül. Das blinden Hass auslösende Feindbild dient der Hamas dazu, drinnen die Massen und draussen die Sympathisanten bei der Stange zu halten. Das Kalkül der Terroristen aber zielt darauf, auch bei den Überfallenen Hass zu schüren, damit deren Armee in die militärische und politische Falle eines verheerenden Gegenschlags getrieben wird.
Feindbilder sind nicht bloss Wahrnehmungsdefekte. Sie liegen nicht auf der Ebene alltäglicher Vorurteile oder Stereotypen. Feindbilder vom Typ des Israelhasses sind strategisch ausgerichtete Manipulationen. Sie gehören zu den gefährlichsten Waffen im Arsenal der totalen Kriegsführung.