Zwar war schon Shakespeares Hamlet der Meinung, dass die «Zeit aus den Fugen» geraten ist. Und in diesen Tagen empfinden viele Zeitgenossen diese Diagnose als bedrückend aktuell – angesichts explosiver Kriege in der Ukraine und in Nahost, dazu Klima- und Migrantenkrise und weitere Brandherde. Aber man kann auch auf zuversichtlich stimmende Perspektiven stossen. Dazu verhilft zum Beispiel das Anhören einer Thomas Mann-Rede aus dem Jahr 1948.
An kriegerischen Szenarien, entsetzlichen Nachrichten und beängstigenden Entwicklungen in zu vielen Regionen unseres Erdplaneten fehlt es nicht, um in diesen Tagen auf düstere Gedanken zu verfallen, dass die Welt aus den Fugen zu geraten droht oder gerade dabei ist, es zu tun. «The time is out of joint», lässt Shakespeare seinen Hamlet sagen. «Die Zeit ist aus den Fugen», was im politischen Zusammenhang häufig mit «Die Welt ist aus den Fugen» zitiert wird.
Szenen von Krieg und Krisen
Schon seit 19 Monaten bringt der verstörende Ukraine-Krieg, den ein vom imperialen Machtwahn besessener Diktator mutwillig vom Zaun gerissen hat, Tod, Zerstörung und Flüchtlingselend über das osteuropäische Land. Jetzt ist in der Nahostregion durch den mörderischen Überfall von Hamas-Terroristen auf Israel ein zweiter hochgefährlicher Kriegsschauplatz neu entfacht worden. Niemand weiss im Moment, ob und wann sich noch weitere waffenstarrende Machtgruppen und Regime in diesen blutigen Kampf einmischen werden.
Hinzu kommt die andauernde, kindisch anmutende Blockade im amerikanischen Repräsentantenhaus, wo die vom egozentrischen Manipulator Trump verhexten Republikaner nicht in der Lage sind, einen halbwegs seriösen Speaker zu wählen. Damit wird die ganze legislative Maschinerie, inklusive die Bewilligung dringend benötigter Hilfsgelder für die Ukraine und Israel, lahmgelegt. Ein deprimierendes Schauspiel für jeden vernünftig denkenden Zeitgenossen und ein gefundenes Fressen für alle Verächter der Demokratie und alle händereibenden Propheten des amerikanischen Niederganges.
Und natürlich sind neben dem alarmierenden Kriegslärm im europäischen Umkreis und dem politischen Chaos im Zentrum der westlichen Führungsmacht die unheimlichen globalen Krisengespenster wie der Klimawandel und die anschwellenden Flüchtlings- und Migrantenströme keineswegs aus unseren Köpfen und unserem Sorgenbewusstsein verschwunden. Wie soll das alles weitergehen? Wo ist in diesen von Krisen und Ängsten scheinbar so übervoll beladenen Zeiten noch Zuversicht und Zukunftsvertrauen zu finden?
Thomas Manns Frankfurter Goethe-Rede
Zufällig oder vielleicht eher auf der Suche nach eventuellen Antworten zu solchen Fragen habe ich dieser Tage auf einer Autofahrt vom Tessin nach Zürich auf einer Hör-CD die Rede gehört, die Thomas Mann 1949 in der Frankfurter Paulskirche zu Goethes 200. Geburtstag gehalten hat. Ein eindringliches, inspirierendes und bewegendes Tondokument.
Thomas Mann, der zum Zeitpunkt seiner Frankfurter Rede seinen Wohnsitz immer noch in Amerika hat, berichtet zuerst über seine Jahre im Exil, zu dem er sich wegen Hitlers Machtergreifung ab 1933 entschlossen hatte, zuerst in der Schweiz und dann in den USA. Im Exil habe er in jenen Jahren «den Affekt des Hasses» kennengelernt, erklärt der berühmte deutsche Autor und Nobelpreisträger in seiner Rede: «Ja, meine Zuhörer, ich habe die ruchlosen Verderber Deutschlands und Europas gehasst, mit unbedingtem, mit tödlichem Hass, dessen ich mich nicht zu schämen hatte …»
Wer heute diese Sätze hört, die vor mehr als siebzig Jahren gesprochen wurden, kann sich lebhaft vorstellen, dass manche unter jenen Hunderttausenden Russen, die jetzt im Exil leben und noch viel Zahlreichere unter jenen Millionen ukrainischer Flüchtlinge, die durch Putins Überfall aus ihrem Land vertrieben worden sind, von ähnlichen Hassgefühlen gegen den «Verderber Russlands» erfüllt sind, wie sie Thomas Mann gegenüber dem Hitler-Regime formuliert hat.
«Die Ratlosigkeit ist gross»
Dann aber kommt der 74-jährige Schriftsteller auf die allgemeine Verunsicherung und Ratlosigkeit zu sprechen, die so kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland herrscht, wie es wohl weitergehen werde, mit dem in Trümmern liegenden Land und mit dem damals schon gespaltenen Europa. Auf solche Fragen, sagt Thomas Mann, könne er hier und jetzt auch keine konkreten Antworten geben. Er sei kein Prophet, der vorgebe, die Zukunft zu kennen. «Die Ratlosigkeit, wie dies alles sich lösen, ordnen, setzen, wie es ins Gleiche kommen, politisch, sozial, ökonomisch, allgemein geistig … diese Ratlosigkeit ist gross und nur die Stumpfheit oder ein zynisches Konjunkturrittertum, das jede Situation kaltblütig für seine persönlichen Zwecke auszubeuten weiss, leiden nicht unter ihr.»
Dennoch, bekennt Thomas Mann, müsse man sich von solcher Ratlosigkeit nicht beherrschen lassen. Es gebe die «Zuflucht der Phantasie», der Kunst, der Gestaltung, des schöpferischen Tuns. «Es hat mit der Kunst vielleicht eine glücklichere, hilfreichere, lebensdienlichere Bewandtnis als mit allem Ratwissen, Glauben und Lehren.» Und das gelte nicht nur für den künstlerisch tätigen Menschen, sondern auch für den «dankbaren Laien und Geniesser des Kunstwerks».
In andere Welten eintauchen
Stimmt dieser Ratschlag des grossen Schriftstellers und Humanisten, der bei allen inneren und äusseren Krisen, von denen man aus seinen Tagebüchern weiss, nie die Kraft und das schöpferische Vertrauen zu neuen Werken, geistigen Gestaltungen und klaren, politischen Stellungnahmen verloren hat? Stimmt der Ratschlag auch für gewöhnliche Zeitgenossen, die keine berühmten Romane schreiben oder andere prominente Kunstwerke schaffen? Nützt es auch heutzutage, wenn der Eindruck sich ausbreitet, dass die Welt dabei ist, aus den Fugen zu geraten, sich mit Kunst und andern geistigen Werken zu beschäftigen – um Mut und Zuversicht zu schöpfen für konstruktive, kreative Beschäftigungen und inspirierende Gedankengänge?
Es mag nicht immer und in jedem Fall helfen. Doch zumindest ist es empfehlenswert, sich hin und wieder zu lösen von der Dauerflut der tagespolitischen News mit ihren häufig bedrückenden Inhalten, und sich, wie Thomas Mann das formulierte, der Phantasie, der Kunst zuzuwenden. Das kann konkret auch bedeuten, ein Buch zu lesen, einen gehaltvollen Film anzuschauen, eine Ausstellung zu besuchen, im Garten Frühlingsblumen zu pflanzen – oder per CD einem Vortrag von Thomas Mann zuzuhören. Kurz, in andere Welten einzutauchen. Das ist geeignet, nicht nur Distanz und mehr Gelassenheit zum nervösen permanenten Nachrichten- und Bilderstrom zu gewinnen. Und es kann auch die durchaus nicht neue, aber häufig übersehenen Einsicht aktualisieren, dass im Lauf der Geschichte die Welt für die jeweiligen Zeitgenossen schon häufiger «aus den Fugen» geraten schien.