Lyonel Feininger (1871–1956), einst fast allzu populär, aber doch eher verkannt, dann lange ziemlich vergessen: Dieser Künstler ist in einer grossartigen Retrospektive in seiner Entwicklung zu erleben und (hier ist es kein Gemeinplatz) neu zu entdecken.
Auch bei einem Publikum, das bei «moderner» Kunst allerhand Zumutungen fürchtet, kommt Lyonel Feininger gut an. Mit seinen geometrisch konstruierten, «kristallinen» Bildern, deren polygonale abstrakte Farbfelder sich überlagern und die doch stets der gegenständlichen Darstellung verhaftet bleiben, hat er ein wiedererkennbares Markenzeichen geschaffen.
Ebendiese Popularität ist es aber auch, die Feininger für kunstaffine Kreise verdächtig macht. Hat da einer vielleicht den allzu komfortablen Weg eingeschlagen, indem er mit einer simplen Masche auf Publikumserfolg aus ist? In der Tat ist Feininger vor allem mit Bildern bekannt geworden, deren formale Strenge üppig mit koloristischer Gefälligkeit versüsst ist. Bei derartig vordergründiger Effektmalerei ist es fast nicht zu vermeiden, dass jenes in der Kunstwelt so tödliche Verdikt des Kitschs im Raum steht.
Auf die Dauer hat die Popularität dieses gefällig geometrisierten und kolorierten Bildertyps dem Renommee Feiningers nicht gutgetan. Er geriet in letzter Zeit doch eher in Vergessenheit. Offenbar hat die Kunsthalle Schirn in Frankfurt dies zum Anlass genommen, das Werk dieses Lyonel Feininger neu zu sichten und zu bewerten. Die Schirn tut dies mit einer grosszügig dotierten Retrospektive. Mit den rund 160 Werken zeigt sie einen überraschend vielseitigen und ungemein interessanten Künstler. Entstanden ist eine Ausstellung, die den generellen Kitschverdacht gegenüber Feininger entschieden korrigiert.
Charles (Lyonel) Feininger kommt 1871 in New York zur Welt als Sohn eines Musikerpaars, beide aus Deutschland stammend. Als er sechzehn ist, begleitet er die Eltern auf einer Konzertreise nach Deutschland und bleibt dort. Geplant ist eine musikalische Ausbildung in Leipzig, doch bald wechselt er zum Kunststudium nach Berlin. Sein erstes Geld verdient er mit Karikaturen für die damals beliebten Witzblätter.
Künstlerisch wird Feininger nach seiner eigenen Aussage von Cézanne, van Gogh und Turner beeinflusst. Vielleicht noch wichtiger sind für ihn in den frühen Jahren Chagall, die Delaunays und die deutschen Expressionisten. 1917 bringt dem bereits 46-Jährigen eine erste Einzelausstellung in der Berliner Galerie «Der Sturm» endlich den Durchbruch in der deutschen Kunstszene.
1917 ist auch das Jahr des Kriegseintritts der USA gegen Deutschland. Der US-Bürger Feininger, der sich inzwischen als Deutscher fühlt, gilt als feindlicher Ausländer und wird von den Behörden argwöhnisch überwacht. Noch 1918 malt er ein Aquarell mit dem Titel «Siegesrausch», das zwar nicht nach seiner Form, aber umso deutlicher mit seinem Inhalt auf der Linie der deutschen Kriegspropaganda liegt.
Trotz seines deutschen Patriotismus tritt Feininger der Novembergruppe bei, einer als Reaktion auf die russische Oktoberrevolution formierten deutschen Künstlervereinigung, die sich selbst als radikal und revolutionär bezeichnet. Ihr gehören nebst Expressionisten, Kubisten, Dadaisten und Futuristen auch wichtige Bauhaus-Künstler an. Bauhaus-Gründer Walter Gropius beruft Feininger als Meister an die geschichtsträchtige Institution nach Weimar. Für das gedruckte Manifest und Programm des Bauhauses gestaltet Feininger 1919 das Titelbild, den Holzschnitt «Kathedrale». Das Motiv, an dessen definitiver Form er lange gearbeitet hat – die Ausstellung dokumentiert die Stationen von dessen Entwicklung –, ist zu einer Ikone der expressiven Moderne geworden und hat dem Bauhaus mit der bildhaften Referenz auf die Tradition der Münsterbauhütte und ihrer auf Handwerk und Kooperation beruhenden Kunstauffassung eine enorme Ausstrahlung verliehen.
Im Bauhaus ist Feininger dreizehn Jahre lang tätig, zuerst als Lehrer, später als auf eigenen Wunsch von Unterrichtsverpflichtungen freigestellter Künstler. Er bleibt dort, bis das mittlerweile in Dessau domizilierte Institut 1932 von den Nationalsozialisten geschlossen wird.
Gewissermassen als Artist in Residence erhält Feininger 1929 den Auftrag, eine Stadtansicht von Halle an der Saale zu malen. Im Torturm der Moritzburg wird ihm eigens ein Atelier eingerichtet. Obschon er sich nur für ein einziges Gemälde verpflichtet hat, entsteht eine eindrucksvolle Serie von elf Bildern, die er immer wieder überarbeitet, bis er 1931 den Auftrag abschliesst.
Hier entwickelt er die malerische Handschrift, die später als «typisch Feininger» breite Bekanntheit erlangen wird. Es handelt sich bei der Hallenser Serie überwiegend um grossformatige Ölmalereien, in denen fast menschenleere Szenerien mit bekannten Kirchen und anderen Bauten eine traumartige Geisterstadt evozieren. Die gegenständliche Darstellung verfremdet Feininger durch Überlagerung mit geometrischen Strukturen, freie Farbgebung und Umkehrung der perspektivischen Fluchten.
Mit seiner Bildkomposition und Malweise strebt Feininger die Erzeugung einer kontemplativen, spirituellen Atmosphäre an. Prismatische Überlagerungen und komplexe Farbschichtungen ergeben irisierende Effekte. Beim Bild «Der Dom in Halle» bewegt er sich mit den Farbspektren von Tintenblau bis Schwefelgelb und von Bernsteinbraun bis Anthrazitgrau in einem freien Kolorit, der weniger der Abbildung als vielmehr einer Vision dient. An diesem Bild hat Feininger besonders lange gearbeitet. Man darf es wohl als von ihm gutgeheissenes Ergebnis einer intensiven Suche nach einer neuen persönlichen Bildsprache betrachten.
Das wenig später entstandene Bild «Beleuchtete Häuserzeile II» schliesst formal an die Halle-Serie an, reduziert aber das gegenständliche Setting wie auch die darstellerischen Mittel und führt so zu einer Konzentration der künstlerischen Aussage. Statt der städtischen Szenerie erscheint hier ein sich über die ganze Bildbreite ziehender simpler Häuserblock, statt der komplexen Raumstruktur die einfache horizontale Schichtung, statt der üppigen Illumination das nächtliche Blau mit den erleuchteten Fenstern als kleinen Akzenten.
Gibt es bei den Halle-Bildern einen (allerdings höchst grosszügigen und toleranten) Auftraggeber, so entspringt die «Häuserzeile» einer Autonomie, wie sie dem Kunstverständnis der Moderne zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Feininger malt dieses Nachtbild nicht um des Gegenstands oder eines besonderen Anlasses willen, sondern um eine Idee von Malkunst zu erproben, um die Handhabung seiner persönlichen Ausdrucksmittel voranzubringen. Als Bauhauskünstler versteht er sein Tun als freies Gestalten auf dem Fundament eines handwerklichen Ethos.
Die demonstrative Anlasslosigkeit und gestalterische Freiheit seiner Arbeiten bringen Feininger – und mit ihm so ziemlich alles, was in der Kunst seiner Epoche Rang und Namen hat – sofort ins Visier der Nationalsozialisten. Sie dulden nur noch Kunst, die sich in den Dienst der Nazi-Ideologie stellen lässt. Alles andere wird als «entartet» gebrandmarkt. 1933 wird Feiningers Dessauer Meisterhaus durchsucht. Anlässlich einer Feininger-Ausstellung 1935 in Berlin wird seine Kunst offiziell als «entartet» disqualifiziert. Nicht nur Feininger persönlich ist samt seiner Familie in Gefahr, auch seine Werke sind es. Feiningers Freund Hermann Klumpp, ein ehemaliger Bauhaus-Student, bringt über fünfzig Gemälde und zahlreiche Grafiken in seinem Elternhaus in Quedlinburg in Sicherheit und verwahrt sie auch in der DDR-Zeit. Mehr als 400 von Feiningers Werken werden von den Nationalsozialisten aus öffentlichen Sammlungen konfisziert.
1936 erhält Feininger einen Lehrauftrag in Kalifornien; er zieht mit seiner Familie in die USA und lässt sich in New York nieder; doch er hat grosse Mühe, sich in seine ihm völlig fremd gewordene ursprüngliche Heimat einzugewöhnen. Anderthalb Jahre lang kann er gar nichts malen. Erst dank öffentlichen Aufträgen für Wandmalereien überwindet er die Blockade. Es folgen Bilder mit Motiven, die an die Ostsee erinnern, an deren Küste er viele Jahre lang jeden Sommer gereist ist.
Mit einer Serie von Stadtansichten aus Manhattan setzt er sich künstlerisch mit seiner neuen Nicht-Heimat auseinander. Die Strassenschluchten und Wolkenkratzer erscheinen auf seinen Bildern als apokalyptische Visionen einer unwirtlichen, ja bedrohlichen und dem Untergang geweihten Welt.
In einer gemeinsamen Retrospektive mit Marsden Hartley stellt Feininger 1944 im New Yorker MoMA über 170 Werke aus. Die Ausstellung wird zu seinem eigentlichen Durchbruch in der US-amerikanischen Kunstszene. Er freundet sich mit dem amerikanischen Maler Mark Tobey an, mit dem er einen intensiven Briefwechsel über Fragen der Kunst führt. Feininger gilt inzwischen als arrivierter amerikanischer Künstler und wird in zahlreichen Ausstellungen präsentiert. Das früher eher zur motivischen Vorbereitung von Gemälden eingesetzte Fotografieren macht er zunehmend zum eigenständigen künstlerischen Medium neben Ölmalerei, Aquarell und Zeichnung.
Obwohl Feininger ab Beginn der 1950er Jahre auch im wiedererwachenden Kunstbetrieb Frankreichs, Deutschlands und anderer europäischer Länder in Erscheinung tritt, bleibt er in den USA. Sein Spätwerk zeugt von künstlerischer Reife. Die Bilder behalten ihre kraftvolle freie Expressivität, werden aber formal ruhiger, konzentrierter. Es ist ein anderer Feininger als der, den das auf leichte Kunstgenüsse abonnierte Publikum zu kennen meint. Lyonel Feininger ist gegen Ende seines bewegten Lebens bei einer Ausdrucksweise angelangt, die in scheinbarer Beiläufigkeit Bilder von gespannter Harmonie und geistiger Dichte hervorbringt.
Ein letzter grosser Erfolg zu seinen Lebzeiten ist die vom MoMA gestaltete Wanderausstellung «Three Modern Painters: Beckmann, Feininger, Hartley». Sie wird in elf amerikanischen Städten gezeigt. Feininger stirbt Anfang 1956 in New York. Er wird auf dem Friedhof Mount Hope Cemetery in Hastings-on-Hudson NY beigesetzt.
Schirn Kunsthalle Frankfurt: Lyonel Feininger Retrospektive
bis 18. Februar 2024
Kuratorin: Dr. Ingrid Pfeiffer
Digitorial zur Ausstellung