Die westdeutsche Kulturgeschichte der Nachkriegszeit ist ohne Walter Jens nicht vorstellbar. Er verkörperte das Ideal eines Gelehrten, der sich mit Lust in das Getümmel aktueller Debatten stürzte. Mehr als zwei Jahrzehnte lang verfasste er zudem putzmuntere Fernsehkritiken. Walter Jens wurde am 8. März 1923 geboren.
Walter Jens war Germanist und Altphilologe. Man sagte von ihm, dass er die Schlüsseltexte der griechischen Antike wortwörtlich im Kopf habe. Das mag etwas übertrieben gewesen sein, aber richtig daran ist, dass Jens in dem antiken Geist so, wie er ihn verstand, lebte. Und in seinem literarischen Schaffen setzte er sich mit einzelnen Gestalten auseinander und deutete sie um. Das geschah zum Beispiel 1957 mit seiner Erzählung «Das Testament des Odysseus». In seinem letzten Roman von 1975 setzte er sich mit Judas Ischariot auseinander und liess ihn in einem fiktiven Seligsprechungsprozess zum Heiligen erklären, weil es ohne ihn die christliche Heilsgeschichte nicht gäbe.
Überhaupt erntete Jens, Mitglied der Gruppe 47, als Literat höchste Anerkennung. 1947 beauftragte ihn Ernst Rowohlt mit einem Roman, in dem er sich mit dem Totalitarismus Hitlers und Stalins auseinandersetzte. In Frankreich erschien dieser Roman in einer Bühnenfassung, die mit einem Kulturpreis ausgezeichnet wurde. Jahrelang war Jens geradezu symbiotisch mit Marcel Reich-Ranicki befreundet, aber es kam auch zu Zerwürfnissen.
Walter Jens gehörte zum Kreis jener Intellektuellen, die wie Heinrich Böll energisch gegen den Nato-Doppelbeschluss protestierten und sich 1983 an einer «Prominentenblockade» der Zufahrt zum Depot von Pershing-Raketen in Mutlangen beteiligten. Während des 2. Golfkrieges versteckten seine Frau Inge und er desertierte US-Soldaten in ihrem Haus.
Um so grösser war das Entsetzen, als 2003 herauskam, dass Jens Mitglied der NSDAP und anderer Nazi-Organisationen war. Zunächst versuchte er, diese Tatsache zu verleugnen, aber es kamen Dokumente ans Licht, die seine Zugehörigkeit eindeutig belegten. Im Jahr 2004 erkrankte Walter Jens an Demenz, was sein Sohn Tillmann als Folge der Verleugnung der Vergangenheit deutete. Diese Deutung ist aber sehr umstritten.
Walter Jens lehrte in Tübingen, und dort entstand seine enge Freundschaft mit Hans Küng. Jens hat die Evangelien und den Römerbrief des Paulus neu übersetzt. Mit Küng verband ihn allerdings zunehmend die Frage, ob ein Christ sein Leben selbstbestimmt beenden dürfe, wenn ein bestimmter Punkt des Leidens und der Aussichtslosigkeit auf Heilung erreicht ist. Dazu verfassten beide gemeinsam ein Buch. Als Walter Jens allerdings immer tiefer in seiner Demenz versank, vermochte seine Frau Inge nicht, seinem Leben in irgendeiner Weise ein Ende zu setzen. Darüber hat sie einen bewegenden Bericht verfasst. Walter Jens starb am 9. Juni 2013.
Das Foto mit Inge und Walter Jens entstand am 5. November 2003 während einer Pressekonferenz in München. Anlass war die Verleihung des internationalen Buchpreises «Corine 2003» für ihr gemeinsames Werk «Frau Thomas Mann». (Foto: Keystone/AP Photo/Uwe Lein)
(J21)