
Vor fünfzig Jahren leitete der Schweizer Harald Szeemann die Dokumenta 5 in Kassel. Er stellte sie unter das Thema: «Befragung der Realität – Bildwelten heute». Während der 100 Tage liess Szeemann die Künstler nicht nur ihre Werke zeigen, sondern lud sie auch zu spontanen «Happenings» ein. Das gab zu reden, war aber kein Skandal.
Die Documenta 15 in diesem Jahr ist von einem ganz anderen Kaliber. Ihr Skandal hat derartige Ausmasse angenommen, dass die Documenta geradezu implodiert ist, die Generaldirektorin Sabine Schormann zwischenzeitlich ganz von der Bildfläche verschwand und auch die für Kultur verantwortlichen Politiker unter Beschuss geraten sind.
Genau genommen handelt es sich nicht um einen einzige Skandal, sondern um mehrere, von denen man nicht einmal sagen kann, welcher von ihnen der grösste ist. Buchstäblich am augenfälligsten waren Bildcollagen, die ein indonesisches Künstlerkollektiv ausstellte und die antisemitische Hetze in Form einschlägiger Bildstereotypen enthielten. Die grösste und wichtigste Collage von mehreren Metern Grösse wurde erst im letzten Moment zur Ausstellungseröffnung im Eingangsbereich enthüllt, aufgrund der Empörung flugs wieder verhüllt und am nächsten Tag gleich ganz abgebaut.
Das indonesische Künstlerkollektiv «Ruangrupa», dem die tüchtige Generaldirektorin die gesamte Gestaltung der Documenta überlassen hatte, tat ahnungslos, weil in ihrem Kulturkreis Antisemitismus in Bild und Text eigentlich unbekannt sei. Schon vorher hatten Beobachter aber kritisiert, dass einige Mitglieder dieses Kollektivs der israelfeindlichen Kampagne «Boycott, Divestment and Sanctions» (BDS) nahestehen. Jetzt seitens der Veranstalter und verantwortlichen Politiker so zu tun, als sei man vom Antisemitismus der immerhin mit 42 Millionen Euro aus öffentlichen Mitteln finanzierten Veranstaltung überrascht worden, erfordert schon ein hohes Mass an Chuzpe.
Das wird auch von einigen der europäischen Künstler so gesehen. So hat die international renommierte Hito Steyerl, die die wichtigste und aufwendigste Installation für die Documenta beigesteuert hat, ihr Werk zurückgezogen und die Veranstalter ultimativ aufgefordert, alles abzuschalten und abzubauen.
Der Vorsatz, die angeblich eurozentrische und selbstverständlich rassistische Kunstproduktion zugunsten kollektiver Sicht- und Produktionsweisen zu überwinden, hat sich spätestens mit der Ausstellungseröffnung als faule Ausrede für fehlende Kompetenz, Engagement und Urteilsvermögen herausgestellt. Da denkt man gern an Harald Szeemann mit seiner überbordenden Kreativität und Eigenwilligkeit. Das Foto entstand im Mai 1972 in Szeemanns Büro in Kassel. (Foto: Keystone/EPA/Str)
(J21)