Jeder Mensch mache Fehler, aus Fehlern lerne man, weiss der gute, obzwar abgenutzte Ratschlag. Verwandt mit dem Ratschlag ist der antike Spruch, dass irren menschlich sei. Aber was fehlt eigentlich beim Fehler? Und was ist der Unterschied zwischen Fehler und Irrtum?
Irrtum und Fehler
Ein Irrtum unterläuft einem, wenn man es nicht besser wissen kann. Einen Fehler macht man, wenn man es besser wissen könnte. Wer elementares Rechnen gelernt hat, sollte die Regeln kennen. An ihnen lässt sich abweichendes Verhalten – der Rechenfehler – ablesen. Beim Irrtum existiert (noch) keine Regel. Er kann aber durchaus eine Regel setzen. Ein Bergsteiger verirrt sich zum Beispiel, und er gerät in eine höchst gefährliche Passage mit Steinschlag. Nun verbessert er durch diese Kenntnis sein Wissen über den Berg, und als Regel könnte nun gelten, diese Route aus Sicherheitsgründen zu meiden. Begeht sie ein Bergsteiger trotzdem, riskiert er einen – eventuell tödlichen – Fehler.
Falsche Prämissen, mangelndes Vorauswissen
Wider besseres Wissen handeln – das kennt man aus der Politik. Hier ein aktuelles Beispiel. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier stand im April unter harscher Kritik, weil er Nord Stream 2 so lange befürwortet hatte. Er sagte in einem Interview: «Das war ein Fehler, ganz klar. Ich habe mich zu lange damit beruhigt, dass Planungen für diese Pipeline schon vor 2014 stattgefunden hatten, und ich habe auf Dialog gesetzt.» Ein Lehrbuch-Fall: Man setzt auf eine falsche Annahme. Dabei hätte man es besser wissen können. Der Fehler falsifiziert die Prämisse.
Komplementär dazu gibt es den Fehler aufgrund mangelnder Berücksichtigung der Konsequenzen. War es ein Fehler, nach der Osterweiterung der Nato die Rüstungskontrolle zu reduzieren? Die Konsequenz macht sich jetzt – laut dem Osteuropakenner Erich Gysling – in den fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten zwischen dem Westen und Russland bemerkbar: «Wir wissen nicht einmal, ob es noch eine Linie zwischen Moskau und Washington gibt.» Das Fehlen mediativer Kanäle: eine fatale Konsequenz in der Politik. Natürlich ist man in der Rückschau immer klüger. Aber auch die Vorschau eröffnet mehr oder weniger kluge Alternativen. Und die Nichtbeachtung der schlimmstmöglichen kann sich als grober Fehler erweisen. Das ist übrigens eine alte stoische Einsicht: «praemeditatio malorum».
Wissenschaftliche Entdeckungen
Mangelnde Kenntnis der Konsequenzen charakterisiert viele wissenschaftliche Entdeckungen. Handelt es sich um Fehler oder Irrtümer? Wissenschaft schlingert immer zwischen Nichtwissen und Folgenverantwortung. Der Wissenschafter macht zwar Prognosen, aber er ist kein Prophet. Das heisst, innerhalb wohldefinierter Laborbedingungen kann er durchaus voraussagen, was passiert. Passiert es nicht, hat er sich geirrt. Er kennt freilich nie vollständig die Rahmenbedingungen, unter denen sich seine Ergebnisse und Entdeckungen weiter verbreiten. Der Chemiker Otto Hahn konnte nicht voraussehen, zu welcher Höllenmaschine seine Entdeckung der Kernspaltung führen sollte, obwohl die Forscherwelt in den 1930er Jahren durchaus die Möglichkeit der Freisetzung ungeheurer Energien diskutierte. Eher verfehlt klingt da Hahns Beteuerung, er habe von der Diskussion keine Kenntnis gehabt. Allerdings unterschrieb er 1957 die «Göttinger Erklärung» gegen die Aufrüstung mit Atomwaffen.
Wissenschaftliches Fehlverhalten
Das wirft generell ein Licht auf wissenschaftliches Fehlverhalten. Wir leben in einer Zeit, da die Erforschung «heisser» Gebiete fast nahtlos in ihre Anwendung übergeht. Man denke etwa an künstlich intelligente Systeme, synthetische Stoffe, medizinische Methoden zur Optimierung des menschlichen Genoms, gentechnisch erzeugte Organismen. Hier gehört es zum Forschungsethos, dass ein kompetenter Wissenschafter nicht nur mit dem aktuellen Kenntnisstand seines Faches vertraut ist, sondern auch ein minimales Bewusstsein möglicher schädlicher Folgen seiner Ergebnisse entwickelt – das alte medizinische Motto «Zuerst einmal nicht schaden». Und so gesehen kann die Berufung auf ein «reines» Erkenntnisinteresse als Fehler – als Verstoss gegen das Ethos – gelten. Wie zum Beispiel im Fall des amerikanischen Chemikers Louis Frederik Fieser – des Erfinders des Napalms. Als man ihm während des Vietnamkriegs Photos von Napalmopfern zeigte, redete er sich heraus, er würde «reine» Grundlagenforschung betreiben. Als ob die Erforschung explosiver Gels von ihrer militärischen Anwendung zu trennen wäre.
Das Ziel vefehlen
Ich kann ein Ziel verfehlen. Der Fehler liegt oft nicht so sehr darin, dass ich das Ziel nicht erreiche, sondern darin, dass ich den Weg dahin noch gar nicht kenne. Methode heisst vom Wortstamm her «einem Weg folgen». Wer methodisch vorgeht, kennt den Weg. Der Schüler, der im Labor eine bestimmte chemische Substanz synthetisieren soll, lernt eine bewährte Methode, und er kann deshalb fehlerhaft vorgehen. Wer in einem Malkurs eine bestimmte Technik einübt, kann Fehler machen, vulgo stümpern. Aber wenn ein Forscher oder Künstler etwas zum ersten Mal versucht, dann hat er keine Methode, kennt er keinen Weg. Sein Weg ist vielmehr gepflastert mit Fehlern, wobei er gar nicht weiss, dass er Fehler macht. Erst in der Rückschau erkennt der Suchende den Fehler, kann er sehen, was er hätte vermeiden sollen. Und vielleicht erreicht er auch ein anderes Ziel als das anvisierte, findet etwas, nach dem er gar nicht gesucht hat. Das ist das Prinzip der Serendipität. Im Verfehlen eines Ziel steckt ein grosses schöpferisches Potenzial.
Bewusstes Fehlermachen
Kreative Menschen begehen oft Fehler. Das heisst, sie verstossen bewusst gegen Regeln, Normen, Sitten. Und sie tun dies, weil sie Alternativen zu den traditionellen Praktiken und Methoden suchen. Sie legitimieren «Fehler» quasi im Umkehrschluss: Es wäre ein Fehler, beim Hergebrachten zu bleiben. Ein solch erweiternder Fehler ist ein innovativer Lernvorgang. Unter Sprachwissenschaftern kursiert der Satz «Die Fehler von heute sind die Regeln von morgen». Das dürfte generell gelten.
Natürlich sprechen wir hier von menschengemachten Regeln. Wer gegen die «Regeln» der Natur – ihre Gesetze – verstösst, wird schnell eines Besseren belehrt. Wenn ich falsch Velo fahre und stürze, begehe ich einen Fehler. Ich kann noch so oft stürzen, ich wäre ein Dussel, dadurch die physikalischen Gesetze ändern zu wollen. Ich lerne erst, wenn ich mich ihnen anpasse, und das bedeutet im Besonderen, dass ich mehr Fahrgeschick erwerbe. Für einen Sturz gibt es selbsverständlich auch immer Gründe, die mir nicht bekannt sind. Insbesondere wegen eines Materialfehlers. Ich kann sowohl fehlerhaft wie irrtümlich auf der Nase landen. Beides tut weh.
Fehler des Allzuviel
Bedeutet Fehler immer ein Fehlen, einen Mangel? Betrachten wir noch einmal die Regel. Es kann ein Fehler sein, sie nicht zu beachten. Was fehlt, ist der Respekt. Aber ist es nicht auch ein Fehler, einer Regel zuviel Respekt zu schulden? Blind ergebener Paragrafenglaube, Autoritätenhörigkeit? Also Übermass, Übertreibung, Überfluss als Fehler? In der Ästhetik taucht die Frage immer wieder bei Definitionsversuchen von Schönheit auf: als das Formvollendete, die innere Stimmigkeit, das Nicht-Zuviel-und-nicht-Zuwenig des Kunstwerks. Es gibt Kunstkritik im Zeichen des Übermasses. Kitsch zum Beispiel begeht den Fehler des Allzuviel. Das ist sogar Picasso vorgeworfen worden. Der Kunsthistoriker Rainer Metzger bezeichnete das Jahrhundertbild «Guernica» einmal als «sauren Kitsch», weil es allzuviel enthalte, «überkodiert» sei.
Das Kunstwerk als Fehler
Darf der Kritiker ein Kunstwerk als Fehler massregeln? Woran nimmt er überhaupt Mass? Der Künstler macht selbstverständlich Fehler, sie sind Teil seines eigenen Schaffens, sie können ihn veranlassen, sein Werk zu revidieren oder gar zurückzuziehen. Aber es sind seine Massstäbe, die er anlegt. Das bedeutet nicht, dass Kunstschaffende jede Freiheit haben. Sie möchten ja ihre Werke ausstellen, und damit stellen sie sich dem Urteil anderer. So wie der Raum des wissenschaftlichen Ergebnisses nicht verantwortungsfrei ist, so erweist sich der Raum des künstlerischen Ergebnisses nicht als frei jeglicher gesellschaftlicher Norm. Es befindet sich stets im Fadenkreuz ästhetischer und ausserästhetischer Bewertung.
Ein «schönes» rezentes Beispiel für missverstandene künstlerische Freiheit liefert das skandalisierte Banner der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi auf der Documenta 15. Es zeigt grotesk-karikierend antisemitische und rassistische Motive. Nicht so sehr eine ästhetische Verfehlung – obwohl sich darüber streiten lässt –, sondern eine soziopolitische: Agitprop-Kitsch. Die vorgeschobene Ahnungslosigkeit der Künstlergruppe lässt sich durchaus als Fehler taxieren. Immerhin markierte ein Mitglied so etwas wie späte Einsicht: «Wir hatten in der Schule etwas über den Holocaust und die Nazi-Herrschaft gelernt, aber nichts zum Antisemitismus an sich. Das ist Teil unseres Lernprozesses jetzt, wenn wir über das Thema sprechen und reflektieren. Wir hätten nicht so nachlässig sein dürfen.»
Die Probleme stehen über uns, nicht wir über ihnen
Die letzten zwei Jahre sollten uns die Augen geöffnet haben: Wir leben im Zeitalter der Irrtümer und Fehler. Nicht so sehr, weil Irren menschlich ist, sondern weil uns dramatisch bewusst geworden ist, dass die meisten akuten und künftigen Probleme über uns stehen und nicht wir über ihnen. Eine zunehmend komplexere vernetzte Welt reduziert nicht die Fehler- und Irrtumsanfälligkeit, sondern vermehrt sie. Und die grösste anzunehmende Fehlerquelle ist der Null-Fehler-Glaube. Vernünftige täten für die Zukunftsbewältigung gut daran, Fehler- und Irrtumsfreundlichkeit als Haltung einzuüben. Sie wird zum Überlebensfaktor.