Die Strategie von Hamas ist aufgegangen. Sie hat die propagandistische Hoheit erlangt und kann Israel dank der grossen Zahl von Geiseln nach Belieben erpressen. Die Regierung Netanjahu hat völlig versagt. Ihr bleiben nur schlechte Optionen.
Vier Tage soll die Waffenruhe fürs Erste dauern. Der Austausch von Geiseln der Hamas aus dem Gazastreifen und gefangenen Palästinensern aus israelischen Gefängnissen ist durch Vermittlung Katars in Gang gekommen. Die Freigepressten sind grossenteils auf der Westbank lebende Palästinenserinnen und Palästinenser, die gegen die völkerrechtswidrige israelische Besiedlung ihres Territoriums Widerstand geleistet haben.
Durch diesen Deal mit Israel verschafft sich die Terrororganisation Hamas in der arabischen Welt und bei den Palästina-Sympathisanten weltweit nun definitiv den Nimbus einer Befreiungsorganisation. Das wird ihr namentlich unter Palästinensern ein kräftiges Plus an Bedeutung und Akzeptanz verschaffen. Und dies wiederum wird den im eigenen Volk unbeliebten, ja, verachteten Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas weiter ins Abseits befördern – jenen Abbas, dem zahlreiche Beobachter eine Schlüsselrolle für die Zeit nach dem Gazakrieg zugedacht haben.
Der Überfall auf Israel vor drei Wochen war keine Aktion von Hasardeuren, sondern Teil einer durchdachten Strategie, welche die Hamas seit Langem verfolgt. Diese begann schon mit der Etablierung ihrer totalitären Herrschaft im Gazastreifen und der Untertunnelung des eigenen Territoriums samt militärischer Nutzung von im Kriegsfall völkerrechtlich geschützten Objekten wie Schulen und Spitälern.
Mit diesen Vorbereitungen hat Hamas das eigene Volk vorsorglich in Geiselhaft genommen. Der zu erwartende Gegenschlag Israels sollte möglichst viele zivile Opfer fordern, was Hamas schon im Voraus propagandistisch zu nutzen gedachte. Bereits mit dem vorgängigen fortgesetzten Raketenbeschuss Israels aus dem dichtbesiedelten Gaza heraus hat sie ihren Feind, dessen gänzliche Vernichtung seit jeher ihr Daseinszweck ist, stets faktisch zur Verletzung des internationalen Kriegsvölkerrechts gezwungen.
Mit dem Angriff vom 7. Oktober auf Israel hat Hamas die Feindschaft in einer Weise eskaliert, die ein späteres Zurückfahren der Konfliktintensität verunmöglichen soll. Hamas lebt von grenzenlosem Hass gegen Israel. Jede Abmilderung des Konflikts würde nicht nur ihre Vorherrschaft in Gaza gefährden, sondern ihre Existenz. Die zwischen Israel und verschiedenen Staaten des Nahen Ostens begonnenen Bestrebungen zur Normalisierung der Beziehungen haben daher die Herrscher des Gazastreifens alarmiert. Ein Bröckeln der arabischen Anti-Israel-Front ist für sie eine Katastrophe.
Angesichts des möglichen politischen Tauwetters entschied sich die Terrorgruppe für einen Raid auf grenznahe israelische Siedlungen. Das Ziel dabei: grösstmögliche demonstrative Brutalität mit Überschreitung sämtlicher Hemmschwellen, um bei den Angegriffenen Schock und Existenzangst in einem nicht mehr zu bewältigenden Ausmass hervorzurufen. Die zu diesen Taten ausgesandten Terroristen waren ausgestattet mit autoritativer religiöser Erlaubnis zur Verletzung aller Tabus und wahrscheinlich zusätzlich mit enthemmenden Drogen. Ihr grauenhaftes Wüten haben sie mit Körperkameras festgehalten, deren Aufzeichnungen den Verteidigern in die Hände fielen und so den Horror potenzierten. Alles wie geplant.
Die Hamas-Führung wusste genau, dass Israel nach dieser beispiellosen Eskalation keine andere Wahl bleiben würde als mit geballter Militärmacht in Gaza einzufallen. Denn die israelische Staatsführung hat ja aufgezeigt bekommen, dass Hamas mit ihrem Vernichtungsziel Ernst macht. Sollte es den Gaza-Herrschern ausserdem gelingen, die wesentlich stärkere Hizbullah in Libanon zu einem massiven Angriff auf Israels Norden zu bewegen, so wäre plötzlich alles möglich: ein Eingreifen der USA und vielleicht Irans – und damit ein grosser Krieg in Nahost, als dessen Folge die Landkarte dieser Weltregion einmal mehr völlig neu zu zeichnen wäre.
Für Hamas ist es eine Win-win-Strategie. Hält Israel sich nach der Terrorattacke zurück, so ist dies ein Zeichen der Schwäche, das zu weiteren Attacken und zum Zangenangriff im Verbund mit Hizbullah ermutigt. Greift jedoch Israel die Hamas in Gaza massiv an, so leidet darunter vor allem die dortige Zivilbevölkerung, was Israel international in Bedrängnis bringt. Hamas erlangt in diesem Fall die propagandistische Hoheit, da zerstörte Wohngebiete, Spitäler und Schulen die Angreifer delegitimieren und eine globale Welle der Israelfeindschaft auslösen.
Mit den über 240 Geiseln, die am 7. Oktober in die Hände der Terroristen gefallen sind, hat Hamas nun zusätzlich ein Faustpfand, das sie rücksichtslos und psychologisch wirkungsvoll einsetzen kann. Die Terroristen können jetzt nach Belieben Deals erwirken: Freilassung palästinensischer Strafgefangener gegen Geiseln, humanitäre Hilfe in Gaza gegen Geiseln, Waffenruhe gegen Geiseln. In propagandistischer Währung sind die Hamas-Leute dabei immer «die Guten». Die Zahl der Verschleppten ist so gross, dass dies alles lange dauern kann, und in dieser Zeit kann Hamas sich regenerieren, neu bewaffnen und beschädigte militärische Anlagen instand stellen.
Das Kalkül von Hamas ist aufgegangen. Israel ist auf der ganzen Linie der Verlierer. Tatsache ist allerdings auch, dass die Regierung Netanjahu, die Geheimdienste und das Militär die Misere im Wesentlichen selbst verschuldet haben. Netanjahu hat sich nie für eine Lösung des Palästinenserproblems interessiert, sondern mögliche Lösungen stets demagogisch hintertrieben. Mit seiner Unterstützung für die israelische Besiedlung und Zerstückelung der Westbank hat er das Problem sogar aktiv verschärft.
Der rechtsnationalistischen Regierung unter Netanjahu bleiben nur schlechte Optionen: entweder Einstieg in einen von den Terroristen gesteuerten Verhandlungsmarathon mit ungewissem Ausgang und unvermeidlicher Stärkung von Hamas – oder Verhandlungsabbruch und brachiales Vorgehen in Gaza mit extremer Gefährdung der Geiseln und dem unkalkulierbaren Risiko einer Ausweitung des Konflikts bis zum grossen Nahostkrieg.