In Russland stellen sich ganz wenige offen gegen den Ukrainekrieg. Putins Gefolgsleute in Politik, Armee, Medien und Kultur sind sowieso auf Linie. Das Volk schwankt zwischen Fanatismus und Gleichgültigkeit. Fast alle machen mit. Was bedeutet das?
Er ist unumschränkter Herrscher über Russland. Er verfolgt fanatisch die Idee der Wiederherstellung der verlorenen sowjetischen Weltmachtposition in einem neu zu schaffenden grossrussischen Reich. Er schwört sein Volk ein auf einen ultimativen Kampf des überlegenen Russentums gegen den dekadenten, geistig verrotteten und dabei raffiniert-aggressiven Westen. Er duldet in seinem Herrschaftsbereich auch nicht den Hauch einer Opposition. Und er deklariert seinen Angriff auf die Ukraine als zwingende Notwendigkeit für die Existenzsicherung seines eigenen Landes.
Wladimir Putin ist es, der diesen Krieg gewollt, die Planungen angeordnet und den Angriff befohlen hat. Auch für die Art der Kriegsführung – maximale Zerstörung ziviler Infrastruktur, Einschüchterung mittels ungezügelter Grausamkeit, Zerrüttung durch Vergewaltigungen und Kindsentführungen, gezielte langfristige Schädigung der wirtschaftlichen Substanz – trägt Putin zweifelsfrei die letzte Verantwortung.
Es ist deshalb oft von «Putins Krieg» die Rede. Der erste Grund für diese Formel liegt auf der Hand: Da Putin über alle Macht verfügt, ist er für alles verantwortlich. Wichtiger jedoch ist ein zweiter Grund: Noch gibt es vereinzelt Dissens in Russland, und er manifestiert sich immer wieder in Zeugnissen beeindruckenden Mutes. Die Opponenten leisten Widerstand gegen Putin, gegen seinen Krieg.
Trotzdem ist es problematisch, einfach allgemein von «Putins Krieg» zu reden. Denn im Blick auf die spätere historische und hoffentlich auch einmal rechtliche Aufarbeitung des russischen Überfalls auf die Ukraine darf die Verantwortlichkeit nicht allein beim Mann an der Spitze festgemacht werden. Auch wenn Putin nach üblicher Diktatorenart sich mit lauter Kopfnickern umgibt, finden sich in seinem Umkreis doch Dutzende, die riesige Bereiche selbst verantworten. Und weiter unten verfügen immer noch Hunderte soweit über eigene Handlungsmöglichkeiten, dass sie selbständig tödliche Entscheidungen treffen.
Verantwortung für das Handeln ist selbst den Befehlsempfängern am unteren Ende der Hierarchie zuzuschreiben. Am Schluss sind es sie nämlich, die Wohnungen, Schulen, Spitäler beschiessen; sie sind diejenigen, die plündern, marodieren, morden, foltern und vergewaltigen. Selbst wenn sie sich darauf berufen, gegen eigenen Willen auf Befehl zu handeln, entbindet sie das nicht von der moralischen Pflicht, nach ihrem Gewissen zu entscheiden. Kant erwähnt in diesem Zusammenhang den Satz, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen; dies bedeute, dass man nicht gehorchen dürfe und solle, wenn ein Befehl etwas Böses fordere. In diesem Zusammenhang sprach Hannah Arendt davon, es gebe kein Recht auf Gehorsam.
Die Chance, dass es je zur gerichtlichen Verurteilung von Kriegsverbrechen kommen wird, ist leider nicht gross. Im besten Fall werden eines fernen Tages wenigstens einige der Hauptverantwortlichen vor einem Sondertribunal zur Rechenschaft gezogen. Würden Putin, Lawrow, Schoigu, Kadyrow, Prigoschin, diverse russische Generäle und hohe Offiziere, ferner wichtige Exponenten des Propaganda-Apparats und der Geheimdienste sowie der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill I. irgendwann vor Gericht gestellt, so könnte dies vielleicht eine ähnlich reinigende Wirkung haben wie die Kriegsverbrecherprozesse nach dem Dritten Reich.
Nur eben, das bleibt wahrscheinlich Wunschdenken. Was aber möglich und notwendig ist, das ist eine moralisch-ethische Reaktion. Nur sie kann Grundlage sein für eine spätere grundlegende Aufarbeitung. Wir als vom Geschehen Betroffene können nicht anders als moralisch urteilen, Partei ergreifen und uns im Rahmen des Möglichen solidarisieren. Es sind mehr als genügend Fakten bekannt, um uns eine derart aktive, nicht gleichgültige Haltung nahezulegen.
Als gleichgültig gegenüber dem Geschehen in der Ukraine beschreiben zahlreiche Beobachter hingegen die Haltung eines Grossteils der russischen Bevölkerung. Allerdings werde diese Gleichgültigkeit in letzter Zeit erschüttert durch die Massenrekrutierungen und die zunehmend bekannt werdenden Fälle von im Krieg getöteten Russen. So wird sich denn vielleicht die Stimmung andern: Es ist dann nicht mehr irgendwo weit weg «Putins Krieg» im Gang, für den er sich als Held feiern lässt, sondern dieser Krieg erfasst die russischen Familien. Das verdrängte Geschehen wird für viele zum persönlichen Unglück und tendenziell für alle zum moralischen Problem, das Fragen nach Recht und Unrecht aufwirft. In Russland dürften die Fragen aber zu spät kommen.
Die entscheidende Antwort könnte man nämlich längst kennen. Sie lautet: Es ist nicht einfach «Putins Krieg», der das Volk der Ukraine ins Elend stürzt und auch zehntausende junge Russen das Leben kostet. Es ist ebenso sehr der Krieg der russischen Armee, der ihm zuarbeitenden Wirtschaft und der ihn tragenden Gesellschaft, befohlen von der Staatsführung, befeuert von einer gewaltigen Propaganda und verklärt von der russisch-orthodoxen Kirche. Dieser Krieg wird vom Volk (vorläufig noch) bejubelt oder apathisch hingenommen. Nicht Teil davon sind in Russland einzig die wenigen Dissidenten und Oppositionellen, die einen erschreckend hohen Preis bezahlen. Sie setzen mit ihrer Kraft und ihrem Mut den Massstab, an dem man das moralische Versagen des Landes, seiner Führung und seiner Institutionen dereinst messen wird.